Und was, wenn ich mitkomme?
A-Mädels und Moni und sogar Pierre aus Kanada. Gemeinsam kehren wir in ein Restaurant ein. Es wird ein schöner Abend mit gutem Essen, leichten Gesprächen und liebevollem Abschied. Doris, Uli und Petra fahren morgen mit dem Bus nach Finisterre, und das bedeutet, »Pfüet euch« zu sagen.
Aus Evas Tagebuch:
Was ist bloß in mich gefahren? Warum habe ich wieder einmal nicht auf mich gehört, obwohl es genau das war, was ich lernen wollte? Soll Pit sich doch stark oder schwach fühlen wie und wo und warum er will. Warum lasse ich mich davon treffen? Wie oft ist es mir auf diesem Weg schlecht gegangen und trotzdem habe ich mich durchgerungen... mitgemacht... erholt und mich bemüht, das Schöne und Gute zu sehen, genauso, wie Pit es vorgegeben hat, ein zermürbendes Rauf und Runter, Euphorie und am Ende sein, manchmal innerhalb weniger Stunden, was für ein emotionaler Kraftakt. Trotzdem bin ich immer hübsch brav Pits Vorgaben und nicht meinen eigenen Möglichkeiten gefolgt. Warum lasse ich das mit mir machen? Warum stelle ich mich sogar noch zur Verfügung, wie zum Beispiel mit diesem blöden Geburtstagsgeschenk? Was habe ich davon? Vielleicht, dass ich »siehst du« sagen kann? Aber zu welchem Preis? Als ob es darum geht, recht zu behalten. Worum geht es aber dann?
Um zwölf besuchen wir den Pilgergottesdienst — erhabene Kathedrale, ergriffene Menschen, eine Menge Glanz und Glitter, ein überlebensgroßer, vergoldeter Jakobus im Altarraum, der sich von den Pilgern umarmen und sich ihre geheimsten Wünsche ins Ohr raunen lässt. Alles sehr pompös. Bloß Jesus suche ich vergeblich. Aber es berührt mich sehr, als am Anfang der Messe »Großer Gott, wir loben dich« in Deutsch gesungen wird, auch wenn mir nicht nach Loben zumute ist. Ich sehne mich nach Trost, Verständnis und Erholung. Doch inmitten der vielen Menschen stehe ich ganz allein da. Keiner, der seinen Arm um mich legt, nicht einmal Gott. Was ist schon eine Kirche, wenn Gott nicht darin wohnt? Was ein Gottesdienst, wenn er nicht dazu dient, dass Gott und Menschen einander berühren? Was soll ein Loblied, wenn mir der Grund für das Lob abhanden gekommen ist? Oder erwartet Gott mein Lob für das Leiden oder für den Schmerz? Wo ist Er, um mich zu trösten und seine Verheißungen zu erfüllen, seine Verheißungen von Frieden und Freude und einem reichen, gesegneten Leben? Ich weiß sehr genau, dass Gott nicht wie ein Automat für die Erfüllung meiner Wünsche parat steht, dass ich ihn zu nichts zwingen, dass ich ihn nicht einmal auf seine Versprechen festnageln kann. Der einzige Ort, an dem Jesus sich festnageln ließ, war das Kreuz — was auch für ihn nichts als unvorstellbares Leiden und tiefe Gottverlassenheit gewesen ist. Und doch lag genau in seiner Qual und Einsamkeit die Rettung — eine Erkenntnis, die ich theologisch schon tausendmal durchdacht und diskutiert habe, die aber plötzlich im Moment der eigenen tiefen Verzweiflung eine völlig neue, unbegreifliche Dimension gewinnt. Ich kann nicht anders, schon wieder kommen mir die Tränen.
Ich habe die ganze Zeit geweint aus Erschöpfung, aus Verzweiflung, aus Trauer um die vertane Chance und aus Angst, dass sich diese Überforderungssituation immer und immer wieder wiederholen wird und all mein Bemühen niemals ausreicht, um daran etwas zu ändern.
Unseren ersten Tag in Santiago beschließen wir mit einem Abendessen mit unseren Caminofreundinnen und Pierre. Das Zusammensein mit ihnen tut gut und lenkt ein bisschen von den eigenen Befindlichkeiten ab. Pit wirkt irgendwie entfernt. Habe ich ihn verloren? Und ist es das, was ich wollte?
41. TAG SANTIAGO
Pit besorgt zum Frühstück Joghurt und Erdbeeren. Wir liegen im Bett und füttern uns gegenseitig. Anschließend gehen wir unseren geliebten café con leche trinken. Dann schlendern wir durch Santiago, das wir jetzt erst richtig wahrnehmen, die verwinkelten Gässchen der Altstadt, die Häuser aus grauem und schwarzem Stein, Boutiquen mit ausgefallenen Waren, Schmuck, Leder, Schaufenster voller Meeresreichtum — Tintenfische und Kraken und Langusten, Schnecken und Muscheln — quirlige Menschen, die sich davor drängeln oder die Straßencafés bevölkern, der Dom, der anmaßend mit seinen zwei Türmen in den Himmel greift, der ausladende Platz davor mit seiner Lebendigkeit, viele Pilger, Sonnenschein.
Pit und ich setzen uns dem Dom gegenüber auf den gepflasterten Boden, die Hosenbeine hochgekrempelt, den Rücken an eine Säule gelehnt,
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