Und was, wenn ich mitkomme?
das Wesentliche. Belangloses bleibt im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke — wir überholen es und lassen es hinter uns. Und zurück bleibt nur noch die Essenz dessen, was man mitteilen oder erfahren möchte. Rachel erzählt mir ihre ganze lange Liebesgeschichte, und ich berichte ihr von meinem Ehe- und Familienfrust und meiner Zuversicht, der Camino möge ein erster Schritt auf einem neuen Weg sein. So ausführlich habe ich noch nie meine Motive dargelegt. Und Rachels Aufmerksamkeit und ihre Rückfragen helfen mir, mich selbst zu sortieren und mir über mich klarzuwerden.
Leider geraten wir auch heute wieder in ein heftiges Unwetter. Pit und ich lassen Rachel und Felix hinter uns und suchen Schutz in einem Bushaltestellen-Häuschen. Unter unseren Bibabutzemännern geht es schließlich weiter bis nach Méson, wo wir zu Mittag essen. Es ist noch früh und wir müssen eine Weile warten. Gut so, denn rechtzeitig zum menu del dia treffen die drei A-Mädels ein und wenig später auch Rachel und Felix. Pit hat seine nassen Sachen so wie wir anderen über die Stuhllehne gehängt und sitzt nur im T-Shirt vor seinem gefüllten Teller. Auf dem T-Shirt ist das Logo von JesusHouse aufgedruckt, einer missionarischen Jugendveranstaltung, die von einem zentralen Veranstaltungsort über mehrere Tage hinweg an einige Hundert Orte via Satellit übertragen wird, und die Pit — weil das nun mal sein Beruf ist — maßgeblich mit vorbereitet und durchführt. Felix ist sehr interessiert. Pit erklärt geduldig, und Felix bekommt ganz runde Augen: »Was, so was stellst du auf die Beine?« Er kommt gar nicht aus dem Staunen heraus.
Wie schön, Anerkennung zu finden und gelobt zu werden! Auf einmal bin ich sehr stolz auf Pit. Wie viel hat er schon in seinem Leben geschafft und erreicht — und ich auch! Wir müssen nichts wie eine Trophäe vor uns her tragen, aber wir brauchen uns auch nicht zu verstecken, sondern dürfen zu dem stehen, was wir haben und was wir sind. Was für ein befreiendes Gefühl!
Getrennt von den anderen geht es nach einer ausgedehnten Mittagspause weiter. Heute sind uns Uli, Petra und Doris und nun auch Rachel und Felix weit voraus. Denn Pit hat Probleme mit seinem rechten Fuß, die mit jedem Kilometer größer werden, sodass er sie nicht mehr ignorieren kann. Die Sehne zum Schienbein schmerzt höllisch und seine Muskeln verkrampfen sich bei jedem Schritt. Langsam humpelt er neben mir her. »Vielleicht hätte ich mehr trinken müssen«, sagt er. Und dann schimpft er: »Bisher lief doch alles so gut...« Ja, für dich, denke ich.
Ich weiß mittlerweile sehr genau, wie es sich anfühlt, trotz großer Schmerzen weiter zu müssen. Es gibt keinen Ausweg außer laufen und durchhalten. Und das macht mürbe bis zur Resignation. Ich kann Pit gut verstehen, und er tut mir sehr leid. Aber ich kann nichts für ihn tun. Wie schade, dass er gerade jetzt, wo meine Energie zurückkehrt, nicht so kann, wie er will. Wenn wir beide zur gleichen Zeit schwach gewesen wären, hätten wir uns vielleicht zwischendurch mal eine Auszeit gegönnt und es wäre weder für ihn noch für mich so schlimm geworden, wie es jetzt ist. Auch wenn jede einzelne Etappe gut zu bewältigen ist, so merken wir doch, wie sehr dieses »Jeden-Tag-Wandern« den Körper beansprucht und auslaugt.
Es sind nur noch knapp 70 Kilometer bis Santiago. Uns erscheint das wie ein Katzensprung. Aber Pit meint: »Am Ziel ist man erst, wenn man da ist.« Recht hat er. Man kann nie wissen, was noch passiert. Jeder Tag ist eine Herausforderung voller Überraschungen und Risiken. Wir müssen es nehmen, wie es kommt, was in einer Situation wie dieser keine leichte Übung ist.
An einem Seerosenteich kurz vor Sobrado lassen wir uns zu einer kleinen Schmauchpause nieder. Wir setzen uns auf einen Holzsteg, legen Rucksäcke und Schuhe ab, und Pit taucht seinen Fuß ins kühle Wasser. Unsere Zigarillos duften, wir lauschen dem vielstimmigen Froschkonzert, der Wind fährt uns durchs Haar. Trotz der Landstraße AC 934 in unserem Rücken ist es still und friedlich.
Es wird spät, als wir schließlich die Herberge erreichen. Sie ist in einem Kloster untergebracht. Moni empfängt uns und ein deutschsprachiger Mönch weist uns ein. Wir beziehen unsere Betten auf einer Galerie. Und allmählich treffen auch die anderen ein. Wo haben die sich bloß so lange herumgetrieben? Wir dachten, heute wären wir einmal die Letzten. Waren wir auch, denn die Mädels haben schon eingekauft und
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