Und weg bist du (German Edition)
verschwand, wurde ich noch hysterischer. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, während eine dampfende Substanz immer höher um mich herum aufstieg.
zwölf
MEMORIAL
»Was ist los?«, fragte Noah. »Du bist ja ganz aufgelöst.«
Er stand vor der offenen Fahrstuhltür und wirkte abgesehen von dem ratlosen Blick, mit dem er mich ansah, ganz normal – keine Wunden, kein herausgebissenes Fleisch, nicht einmal Reste der schleimigen Substanz an seinem Körper. Die Wände des Fahrstuhls bestanden jetzt auch nicht mehr aus pulsierender Masse, sondern aus brauner Holzverkleidung, so wie es sein sollte.
Noah und die anderen Mitfahrer waren bereits ausgestiegen und hatten anscheinend gar nicht mitbekommen, was geschehen war. Ich musterte die Frau, die nur wenige Sekunden zuvor panisch gekreischt hatte. Sie blieb stehen, holte einen Prospekt aus ihrer großen Handtasche und verschwand wenig später im Strom der Touristen. Noah starrte mich an, als ich, noch steif vor Angst, aus dem Fahrstuhl heraustrat. So bizarre Dinge waren gerade in dieser Kabine geschehen, dass ich sie selbst kaum begreifen konnte. Sie Noah zu erklären war deshalb erst recht unmöglich. Er hatte eindeutig nichts von all dem wahrgenommen, was ich gesehen hatte, und wenn ich versuchen würde ihm davon zu erzählen, würde er wahrscheinlich an der nächsten psychiatrischen Klinik vorbeifahren und mich dort in hohem Bogen aus dem Auto schmeißen.
Es war schwierig, dieses Gefühl der dunklen Vorahnung abzuschütteln, das an mir klebte wie ein unangenehmer Geruch. Betont ungezwungen und locker versuchte ich das Foyer zu durchqueren.
»Ist dir nicht gut?«, erkundigte er sich.
Ohne darauf zu reagieren, drehte ich mich um und blickte zurück auf den Fahrstuhl, dessen Türen sich gerade schlossen. Er wirkte harmlos und normal. Noah berührte mich am Arm. »Was ist los? Du zitterst und siehst aus, als müsstest du dich gleich übergeben.«
»Geht schon, ich hatte nur ein wenig Platzangst.«
»Platzangst?«
»Alles gut. Lass uns gehen, okay?«
Einen Moment sah er mich zweifelnd an, sagte dann aber schulterzuckend: »Na gut, hier lang.«
Ich folgte ihm durch die offen stehende Tür des Raums, in dem man der gefallenen Soldaten gedachte, und war erleichtert, dass das Thema für ihn offenbar abgehakt war. Obwohl mein Herz wieder langsamer schlug, fühlte ich mich immer noch wackelig auf den Beinen und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch ich zwang mich weiterzugehen.
»Da wir nach einem Datum suchen«, erklärte Noah, »glaube ich, dass wir hier anfangen sollten.«
Gotische Bögen und hohe Glasfenster mit bunten Scheiben ließen den Raum wie eine kleine Kapelle innerhalb einer Kathedrale wirken. Hier war ich während des Schulausflugs schon einmal gewesen. In der Mitte befand sich ein wunderschöner Altar mit Schnitzarbeiten auf einem steinernen Podium. Darauf stand ein verzierter Messingkasten mit einem gläsernen Deckel. In jeder Ecke knieten kleine Engelsstatuen. Ich stieg die Stufen hinauf und blickte in den Kasten. Darin befand sich das Gedenkbuch für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs . In einem Halbkreis standen weitere Glaskästen auf niedrigeren Steinpodesten im Raum verteilt. Insgesamt waren sieben Bücher ausgestellt, in denen die Kanadier all diejenigen auflisteten, die für ihr Land gekämpft und ihr Leben verloren hatten. Ein besonders dickes behandelte den Zweiten Weltkrieg.
Noah flüsterte mir zu: »Ich glaube nicht, dass die erste Zahl, die Jack uns gegeben hat, für Juli steht. Ich glaube, sie bezieht sich auf das siebte Buch.«
Ich nickte zustimmend und folgte ihm an zwei älteren Damen vorbei zu dem zweiten Buch von rechts. »Dieses hier also«, stellte er fest. Darauf stand: Im Dienste Kanadas, das Siebente Gedenkbuch.
»Nach dem, was hier auf dem Schild steht, wurde es 1947 begonnen.«
»Hierin sind also alle Soldaten aufgelistet, die während Einsätzen zu Friedenszeiten gestorben sind.«
Wie mir jetzt wieder einfiel, hatte der Gruppenleiter bei dem Ausflug damals erwähnt, dass die einzelnen Seiten kleinen Kunstwerke glichen. Die Namen der Gefallenen waren in geschwungener Schrift geschrieben und jedes Blatt war zusätzlich farbig illustriert. Wir schauten durch den Glasdeckel und sahen, dass das Buch an der Stelle aufgeschlagen war, wo die Toten des Jahres 1956 aufgelistet waren.
»Kann ich helfen?«, erkundigte sich jemand hinter uns mit rauer Stimme, die mich zusammenfahren ließ.
Wir drehten uns um und erblickten
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