Und weg bist du (German Edition)
das ›la‹ von ›KULANST‹ ab und das ergibt …«
»Kunst!« Meine Anspannung wuchs. »Wenn man das ›la‹ vor ›GALA‹ löscht, erhält man ›ga‹, dann fügt man das ›le‹ hinzu: ›g-a-l-e‹ …«
»Galerie«, beendete Noah das Wort. »Ohne das ›le‹ von ›RIELE‹ entsteht mit den anderen Buchstaben ›Galerie‹.«
»Lautrec Kunstgalerie.«
»Die gibt es wirklich. Ich glaube, sie ist bei den Paddock-Arkaden.«
Langsam atmete ich aus und lächelte Noah an. Zufrieden grinste er zurück. Es war ein besonderer Moment und er erinnerte mich einmal mehr an den außergewöhnlichen Tag, an dem wir hoch oben in der Kiefer unser erstes Rätsel von Jason Dezember entschlüsselt hatten. »Es ist also nicht weit von hier?«
»Nein, und zumindest schickt er uns nicht zurück nach Ottawa.«
Unterwegs wurde ich immer aufgeregter. »Bist du schon mal in dieser Galerie gewesen?«
Noah schüttelte den Kopf. »Und ich habe auch keine Ahnung, warum er uns dorthin schickt. Als wir Kinder waren, gab es sie noch gar nicht.«
Wind kam auf, blies Wolken wie graue Wollknäule über den Himmel und ließ die Blätter an den Bäumen rascheln. Einige Male fuhren wir die Holcomb Street auf und ab, bis wir die Galerie sahen. Der kleine Laden befand sich in einem rostroten Backsteinhaus mit dunkelgrüner Markise. In den Schaufenstern waren auf edlen Staffeleien Gemälde ausgestellt. Noah parkte und wir überquerten die Straße. Eine Glocke erklang, als wir die Tür öffneten. Ich strich mir mit der Hand die Haare glatt.
Die Galerie mit den dunklen Holzböden hatte etwas Altmodisches. Überall waren Kunstwerke und Antiquitäten zu sehen. Auf einem stufenförmigen Podest thronten Messingskulpturen und an den Wänden mit der pastellfarbenen Seidentapete hingen dicht an dicht Bilder.
Als wir weiter in den Raum hineingingen, hörten wir jemanden sagen: »Ich schau mal nach, wer da ist.«
Ein Junge erschien in einem offenen Durchgang. Er hielt mehrere Pinsel in der Hand. Sein graues Hemd hatte die Farbe seiner Augen und goldene Locken fielen auf seine Schultern. Er wirkte noch recht jung, nicht viel älter als neun, obwohl ich wusste, dass er zwölf sein musste. Ich erinnerte mich daran, was für ein hübsches Kind er gewesen war, und stellte fest, dass er es immer noch war – trotz des schwierigen vorpubertären Alters. Dixon blieb wie angewurzelt stehen und ein überraschtes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.
achtzehn
DIXON
Kalter Regen in der letzten Maiwoche – na vielen Dank! Das Schuljahr war fast zu Ende und damit sollte sich eigentlich der Sommer ankündigen und wir in Shorts und Flip-Flops herumlaufen. Nicht jedoch hier, im Norden des Bundesstaats New York, wo die Kälte aus Kanada herunterkroch. Ich konnte es kaum erwarten, endlich den bedrückenden Klassenräumen zu entkommen, dem Hänseln der arroganten Mädchen und den Lehrern, die ein langweiliges Arbeitsblatt nach dem anderen austeilten.
Ich lag unten im Stockbett und machte Mathehausaufgaben. Auf der anderen Seite des Raumes saß Beth auf ihrem Bett und las. Sie schaute aber immer wieder von ihrem Buch auf und warf mir böse Blicke zu. Ab und zu schob sie die Hand unters Kopfkissen und ich wusste, dass sie dort nach ihrem Messer tastete. Ich beachtete sie nicht weiter und beschäftigte mich lieber mit meinen Bruchrechnungen.
Plötzlich spürte ich, dass jemand neben mir stand. Als ich aufschaute, erblickte ich Dixon. Seine Augen glänzten tränennass, auch wenn er sich bemühte es durch Blinzeln zu verbergen. Weinen, das wusste er, kam bei Hazel Frey nicht gut an und in der grausamen Hackordnung von Seale House galten Tränen als Zeichen von Schwäche. Dixon hatte nach seinem Einzug schnell gelernt, dass es besser war, wenn ihn niemand weinen sah.
»Was ist los?«
Er streckte mir einen lädierten Finger entgegen, auf dem Bissspuren zu erkennen waren. Seine Hand war so klein und der Abdruck so groß. Sofort war mir klar, dass er nicht von einem der jüngeren Kinder stammen konnte.
»Wer hat dich gebissen?«
»Der n-neue Junge«, flüsterte er stotternd.
»Du meinst den, der immer in der Ecke hockt?«
Dixon nickte.
Ich erhob mich und machte mich auf den Weg zum Jungenschlafraum. Dort hockte Edgar mit angezogenen Beinen in der hinteren Ecke des Raumes und beobachtete die anderen. Jack und Noah saßen oben auf einem der Stockbetten und machten sich Notizen aus ihren Programmierbüchern, während Georgie und Spence einen Turm aus
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