...und wenn Du auch die Wahrheit sprichst
Tanja.
Kanter tätschelte seiner Tochter wohlwollend den Arm. »Na also. Du musst erst mal ein Gefühl für die Feinheiten entwickeln. Hat dir denn Frau Dietz das nicht erklärt?«
Tanja schniefte. »Doch, hat sie. Dabei war sie ja während der Reise eigentlich meine Assistentin und nicht deine. Daran musste ich sie erst erinnern. Aber nun steht sie dir wieder zur Verfügung.« Tanja hatte beschlossen, Michaela freizugeben, damit sie ihre Stelle auf Gomera antreten konnte. Sie wollte Michaela nicht im Weg stehen. Und sie würde Michaela dann auch nicht mehr tagtäglich sehen und ständig daran erinnert werden, was alles passiert war. Sie würde sie gar nicht mehr sehen, einfach alles vergessen. Das war das beste!
»Schön.« Kanter nickte zufrieden. »Um aufs Thema zurückzukommen: Du warst doch in Hamburg so engagiert. Warum machst du dort nicht noch ein paar Wochen weiter? Als Assistentin des Managements.«
»Warum hast du dir soviel Mühe gegeben, mich in die Firma zu holen, wenn du mich nur aufs Abstellgleis schieben willst?« fragte Tanja beleidigt. Dass es nicht einfach werden würde ihren Vater zu überzeugen, hatte sie sich schon gedacht, aber dass er sich dermaßen taub stellte!
»Ich will dich doch nicht aufs Abstellgleis schieben«, versicherte Kanter seiner Tochter. »Ich finde nur, du hast viel zu wenig Erfahrungen, um solche tiefgreifenden Veränderungen zu fordern. Wie kannst du nach nur drei Wochen so überzeugt von dir sein? Was, wenn du irrst? Dann hast du nichts weiter erreicht, als vielen Menschen ernste Unannehmlichkeiten gemacht zu haben. Und natürlich verlierst du für den Rest der Tage dein Gesicht vor allen Mitarbeitern der Firma. Niemand wird dich je wieder als taugliche Geschäftsführerin anerkennen. Ist es das, was du willst?«
Tanja schaute ihren Vater verwirrt an. »Nein.«
»Siehst du.« Kanter lächelte nachsichtig. »Ich weiß, ihr jungen Leute lernt auf der Uni, dass man im Geschäft hart durchgreifen muss. Da ist sicher was Wahres dran. Nur wie mit allen Dingen im Leben gilt es auch hier, das richtige Maß zu finden.«
Tanja hatte deutlich den Eindruck, dass ihr Vater sie langsam einlullte. Doch es gelang ihr nicht, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Am Ende musste sie neidvoll zugeben, dass seine Redegewandtheit und Argumentation ihrer überlegen war. Ein Erfahrungsbonus.
Für einige Sekunden überlegte sie, ob sie auf ihren Ideen beharren und hinter dem Rücken ihres Vaters die Initiative ergreifen sollte, entschied sich aber aus zwei Gründen dagegen. Erstens war sie gerade mit ihm einig geworden, dass solche Methoden in der Familie Kanter von nun an nicht mehr zur Anwendung kommen sollten – und das galt natürlich auch für sie –, und zweitens hielt sie es für einen schlechten Führungsstil, der ihr bei den erfahrenen Managern der Firma keine Pluspunkte einbringen würde. Aber gerade die brauchte sie, um sich Gehör zu verschaffen.
Tanja schluckte also den aufkommenden Frust hinunter und entschied sich darauf zu verlegen, kleinere Brötchen zu backen, was so aussah, dass sie ihre Änderungsvorschläge in für ihren Vater leichter verdauliche Scheibchen schneiden würde.
»Also gut«, gab sie nach. »Ich werde deinem Wunsch nachkommen. Hamburg. Wie lange? Vier Wochen? Acht? Aber du musst mir versprechen, dass wir danach dieses Gespräch wieder aufnehmen. Und du kannst dir sicher sein, dass ich die Zeit nutzen werde, meine Vorschläge zu untermauern.«
»Einverstanden«, sagte Kanter. »Und sei du dir sicher, ich werde die Zeit nutzen zu prüfen, ob deine Befürchtungen begründet sind.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich gebe zu, du hast mich etwas nervös gemacht.«
Tanja lächelte. »Damit bin ich zufrieden.«
Das Klingeln des Telefons riss Tanja aus ihren Gedanken. Im Display stand der Name ihres Vaters. Das ging aber schnell. Es waren nur zwei Stunden seit ihrem Gespräch vergangen. Hatte er so schnell alles mit Hamburg geklärt? Sie nahm ab. »Ja?«
»Kannst du mir mal erklären, was in Frau Dietz gefahren ist?«
Tanja brauchte ein paar Sekunden, um zu erfassen, dass ihr Vater von Michaela sprach. »Was meinst du?«
»Komm doch mal bitte in mein Büro.« Er legte auf.
Tanja ging zum Büro ihres Vaters. »Was ist denn passiert?« fragte sie schon beim Öffnen der Tür.
»Setz dich bitte«, forderte Walter Kanter seine Tochter übellaunig auf.
Tanja kam sich vor wie eine Fünftklässlerin, die etwas ausgefressen hatte, aber wirklich keinen Schimmer
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