Und wenn es die Chance deines Lebens ist
durchgeschwitzt.
»Ich hab heute bis drei Uhr morgens gearbeitet. Deshalb bin ich im Zug eingeschlafen und hab die Station verpasst. Und dann bin ich heute Morgen zu diesem Krankenhaus in Pontoise gefahren ...«
Fast ohne Luft zu holen, erzählte sie Dorothée alles, was sie über Fabrice Nile, über Maurice und die Schatzkarten erfahren hatte. Zum Schluss verriet sie ihr, dass sie gleichzeitig etwas über Frédérics Vater herausgefunden habe.
»Irgendwie seltsam, dass dein Chef dich bittet, Informationen über seinen eigenen Vater einzuholen«, warf Dorothée ein.
»Ich weiß, komisch, nicht wahr? Ich bin mir aber sicher, er weiß gar nicht, dass sein Vater krank ist.«
»Das kannst du doch gar nicht wissen.«
»Klar weiß ich es. Ich mach schließlich seine Spesenabrechnung. Er gibt mir all seine Taxiquittungen, Zugfahrkarten und Restaurantrechnungen, und darum kann ich dir sagen, dass er noch nie in Pontoise war.«
»Und haben wir immer noch keinen Anhaltspunkt, warum er sich für diesen Fabrice Nile interessiert?«, fragte Dorothée.
»Nein, Sherlock, das haben wir noch immer nicht«, neckte Pétronille ihre Schwester.
Dorothée lächelte. »Tja, am Montag erstattest du deinem Chef Bericht, und dann kommt endlich Licht in diese ganze Angelegenheit.«
Pétronille tat so, als würde sie nachdenken.
»Ich sage es ihm, ich sage es ihm ... aber nicht sofort. Wenn ich nämlich so recht darüber nachdenke ... Er hat mich gefragt, wie die Beziehung zwischen seinem Vater und Fabrice Nile war. Dass die beiden im selben Krankenhaus lagen, das allein bringt uns nicht weiter. Vielleicht waren sie Freunde, vielleicht aber auch Feinde, vielleicht hat Frédérics Vater ihn auch im Schlaf erstickt. Ich weiß es nicht. Oh, das ist ja schrecklich, was ich da rede.«
»Ja, das ist schrecklich, und ich weiß auch nicht, ob dich diese Heimlichtuerei wirklich weiterbringt«, warnte Dorothée ihre Schwester.
»Das hat mit Heimlichtuerei nichts zu tun. Ich will nur zuerst meinen Bericht vervollständigen. Morgen fahre ich noch einmal zu dem Krankenhaus.«
»Vergiss nicht, dass wir morgen unsere Weihnachtsgeschenke kaufen wollten.«
»Wir haben auch nächstes Wochenende noch genug Zeit, um Geschenke zu kaufen. Ich hab dir doch erzählt, dass das Krankenhaus fast leer war, oder? Es ist nämlich so, dass die Patienten das Wochenende bei ihren Familien verbringen dürfen. Erstens ist es also für mich weniger riskant, und zweitens ...«
»... haben diejenigen, die sich dort aufhalten, keine Familie«, beendete Dorothée den Satz. »Wie dein Maurice oder Fabrice Nile oder ... Frédérics Vater. Das ist traurig ...«
»Ja«, stimmte Pétronille ihr seufzend zu.
Einen Augenblick herrschte Schweigen.
»Ich weiß allerdings nicht, wie ich mit seinem Vater bekannt werden soll«, sagte Pétronille dann, fast als spräche sie mit sich selbst. »Es wäre doch wohl ziemlich frech, einfach so in sein Zimmer hereinzuplatzen und ihn zu bitten, mir etwas über sein Leben zu erzählen.«
Dorothée strahlte sie an, als hätte sie schon eine Lösung für das Problem. »Ah, du musst noch einiges lernen, meine kleine Gefiehlin . An erster Stelle selbstsicheres Auftreten. Frechheit siegt! Was macht ein erfolgreicher Detektiv, um sich aus einer Notlage zu befreien, selbst wenn sie hoffnungslos erscheint?«
Pétronille verzog das Gesicht und schaute ihre Schwester fragend an.
»Er setzt sein spezielles Talent ein.«
»Und was ist mein spezielles Talent?«
»Das frage ich dich.«
»Ich habe keine Talente.«
»Denk doch mal nach, was du besonders gut kannst.« Dorothée schmunzelte.
»Torten backen! Windbeutel!?«, sagte Pétronille.
»Windbeutel. Ganz genau. Auf der einen Seite haben wir einen armen, kranken alten Mann, den niemand besucht, obwohl in einer Woche Weihnachten ist. Ehrlich gesagt habe ich ziemliches Mitleid mit ihm. Auf der anderen Seite bist du, eine sympathische junge Frau, die gerne Windbeutel backt, aber nie genügend Abnehmer dafür findet. Ich wette mit dir um drei leckere, mit Himbeerkonfitüre gefüllte Mandelbaisers von Ladurée, dass dieser arme Mann nur darauf wartet, mal mit jemandem zu sprechen. Du schlägst zwei Fliegen mit einer Klappe. Du vervollständigst deinen Bericht und machst obendrein jemanden glücklich.«
»Keine schlechte Idee«, meinte Pétronille.
Die Tür zum Wartezimmer wurde geöffnet, und die Arzthelferin rief: »Madame Dorothée Joly, bitte.«
In Gedanken versunken folgte Pétronille
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