Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Müdigkeit und die Angst vor dem Unbekannten geschoben. Doch als er jetzt am Ufer der Seine entlanglief, war er noch immer gerührt.
Er dachte nach. Es war mit Sicherheit ein wertloses Bild, eine schlechte Kopie, wie man sie auf Trödelmärkten fand. Fabrice Nile schien künstlerisch begabt gewesen zu sein, seine Zeichnungen waren nicht schlecht. Doch einen Monet zu kopieren, das war etwas ganz anderes. Es bestand auch noch die Möglichkeit, dass es sich um ein gestohlenes Gemälde handelte. Sollte sich sein Verdacht bestätigen, würde er vielleicht im Anschluss an diese geheimnisvollen Ausflüge mit Ganoven verhandeln müssen. Frédéric lehnte Schwarzhandel mit Gemälden prinzipiellab. Jedoch würde er einem kriminellen Schwarzhändler ein Gemälde auch um jeden Preis entreißen wollen. Besäße er die innere Größe, es der Polizei zu übergeben? Oder würde er es in seiner Wohnung aufbewahren, sodass niemand es zu sehen bekam? In zwei Tagen würde er die Bootstour machen. Frédéric stellte sich Tausende verschiedener Szenarien vor, die sich immer weiter von der Realität entfernten.
Während er seinen Spaziergang fortsetzte, ergriff ihn die sonntägliche Melancholie, jene Langeweile, die die Einsamkeit bisweilen hervorrief. Die Frage »Was habe ich aus meinem Leben gemacht?« tanzte mit den Geistern der Vergangenheit, und in der Abenddämmerung nahm die Reue Gestalt an. Ohne es zu bemerken, war Frédéric schon so weit gegangen, dass er plötzlich auf dem Pont des Arts stand. Als er sich gegen das Geländer lehnte, um Notre-Dame zu bewundern, sah er ein Vorhängeschloss, dann zehn, dann Hunderte und Tausende, die an dem Drahtgeflecht des Brückengeländers hingen. In die Vorhängeschlösser waren die Namen der Verliebten graviert. Sie glitzerten wie Pailletten im Licht der Laternen und wetteiferten mit dem Eiffelturm, der in diesem Augenblick aufleuchtete. Irgendwann war der Brauch aufgekommen, diese Liebesschlösser auf der Brücke aufzuhängen, und von einem Tag auf den anderen verewigte dort nun die ganze Welt ihre Liebe. Durchreisende Touristen und Pariser und so an einem Nachmittag im Frühling vor eineinhalb Jahren auch Frédéric und Marcia. Natürlich war sie es gewesen, die darauf gedrängt hatte. Um ihr eine Freude zu machen, willigte er ein. Er machte ihr nämlich gerne eine Freude.
Entgegen aller Vernunft ging Frédéric am Brückengeländer entlang und zählte die einzelnen Abschnitte des Drahtgitters. Seltsamerweise erinnerte er sich: vom Louvre aus der neunte Pfosten. Er musste ein wenig suchen, denn in diesem Bereich hingen mindestens 20 Vorhängeschlösser. Schließlich entdeckte er es. Die mit einem Permanentmarker aufgetragene Schrift war verblasst, aber immer noch lesbar:
F + M
10. Mai 2011
F + M. Verse auf Zugfahrkarten. Tattoos auf dem Arm einer Reisebekanntschaft. Ein verschwundenes Wintergemälde von Monet. Frédéric schwirrte der Kopf, als er den Blick über die Stadt schweifen ließ. Nichts ergab mehr einen Sinn. Es wurde Zeit, zurückzukehren und das Kalenderblatt dieses sonderbaren Sonntags abzureißen.
Doch dann stand ihm der Montag bevor, und vor dem fürchtete er sich.
Pétronille klammerte sich an den Sonntag wie ein Vorhängeschloss an den Pont des Arts. Den ganzen Nachmittag drehten sich ihre Gedanken nun schon im Kreis, und Dorothée musste sich Pétronilles schlimmsten Horrorszenarien anhören. Sie studierte laut ein, was sie Frédéric morgen sagen würde.
Dorothée hielt Frédéric für herzlos, weil er seinen Vater einsam sterben ließ. Pétronille wollte das jedoch so nicht stehen lassen, auch wenn sie eigentlich gar nicht genau wusste, weshalb. Sie hatte nur von jeher so ein Gespür gehabt: Frédéric Solis, der hervorragende Anwalt, dem das Glück lachte, dieser Ken aus den Hochglanzmagazinen, verbarg in seinem Inneren eine grenzenlose Verwundbarkeit. Im Laufe des Sonntags verwandelte Frédéric sich in Pétronilles Augen in einen modernen Prinzen, dessen Glanz durch unsäglichen Schmerz getrübt wurde. Mit Pétronille ging die Fantasie so weit durch, sich vorzustellen, das Schicksal hätte es so eingefädelt, dass dieser sensible Held auf seinem Weg ausgerechnet ihr begegnete.
Sie war vor Angst in fieberhafter Aufregung. Drei Stunden intensiven Nachdenkens führten schließlich zu folgendem Plan: Sie würde Frédéric erklären, sie sei ihrer innerenStimme gefolgt, um etwas über Fabrice Nile zu erfahren. Dabei habe sie Verschiedenes herausgefunden. Falls er
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