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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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sportlichen, energiegeladenen Mann, der mit 63 Jahren noch kaum Anzeichen von Erschöpfung zeigte. Einen Augenblick dachte sie schmerzlich daran, wie es wäre, wenn hier ihr eigener Vater läge.
    Als Pétronille am Bett des schlafenden Kranken stand, kam sie sich auf peinliche Art deplatziert vor. Im Zimmer war es still, der alte Mann wirkte einsam und verlassen. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür zurück. Sollte sie vielleicht warten, bis er aufwachte? Pétronille warf einen Blick auf die kleinen Windbeutel in der Frischhaltedose, ging erneut zum Bett und stellte sie behutsam auf den Nachttisch. Sie wollte etwas sagen, rang die Hände und flüchtete dann.
    »Sind Sie eine Angehörige?«, fragte plötzlich jemand, als sie gerade leise die Tür schloss. Pétronille zuckte zusammen.
    Es war der Arzt, den sie schon gestern gesehen hatte.
    »Nein, hm ... ich ... ich bin eine Freundin. Nun, es ist eine komplizierte Geschichte.«
    Der Arzt musterte sie prüfend.
    »Er ist sehr krank, nicht wahr?«, fragte Pétronille ihn.
    Der Arzt bedeutete ihr, ihm zu folgen, und sie fragte sich, ob sie sich nun in Schwierigkeiten gebracht hatte.
    »Sie sind eine Freundin, sagten Sie?«
    »Ja, eine Freundin seines Sohnes.«
    »Sie meinen Frédéric? Wissen Sie, dass er seinen Vater noch nie besucht hat?«
    »Ja, ich ...«, stammelte Pétronille.
    »Im Grunde geht es mich nichts an. Dennoch möchte ich Sie über seinen Gesundheitszustand informieren, weil Sie die Erste sind, die mich fragt. Und Sie werden sicherlich auch die Letzte sein.«
    Pétronille Mund wurde trocken.
    »Ernest Villiers hat Krebs. Sein ganzer Körper ist voller Metastasen. Wir haben ihn mehrfach operiert. Unglücklicherweise sind mittlerweile fast alle lebenswichtigen Organe befallen. Wir warten noch auf die Untersuchungsergebnisse nach der letzten Therapie, doch ich habe keine große Hoffnung. Vor allem nicht bei einem Mann, dessen Gesundheit bereits durch einen Herzinfarkt angegriffen ist. Es tut mir leid, Mademoiselle, wenn ich es Ihnen so deutlich sagen muss, aber Monsieur Villiers wird Weihnachten vermutlich nicht mehr erleben.«
    Pétronille war sprachlos. Sie hatte in ihrem Leben noch nie einen im Sterben liegenden Menschen gesehen. Das Bild von Ernest Villiers, der bewusstlos in seinem Bett lag, hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt.
    In Gedanken versunken folgte Pétronille dem Arzt bis zum Aufzug. Der Arzt erklärte ihr, dass Ernest Villiers hier im Krankenhaus die beste Pflege erhielt und dass ... Pétronille hätte gerne irgendetwas gesagt, doch es war bereits alles gesagt worden.
    »Darf er Windbeutel mit Pistaziencreme essen?«, platzte sie schließlich heraus.
    Der Arzt lächelte. »Ich weiß nicht, ob er überhaupt Appetit hat, aber es spricht nichts dagegen. Ich glaube, ein paar Windbeutel mit Pistaziencreme würden ihm sehr guttun.«
    Drei Minuten später stand Pétronille zitternd auf dem Parkplatz und wusste gar nicht, wie sie dorthin gekommen war. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch je weiter sie sich vom Krankenhaus entfernte, desto klarer wurden ihre Gedanken.
    Sie hasste Montage und den morgigen ganz besonders. Aber was spielte es schon für eine Rolle, Frédéric gestehen zu müssen, dass sein größter Mandant wütend auf ihn war, weil sie einen Fehler gemacht hatte? Sie würden sich schon alle wieder beruhigen.
    Jetzt kam allerdings noch etwas anderes hinzu: Sie musste Frédéric informieren, dass sein Vater in einem Krankenhaus in einem Pariser Vorort im Sterben lag.
    Das würde der schlimmste Montag ihres Lebens werden.

Nachmittags um zwei Uhr wachte Frédéric auf, und im ersten Moment wusste er nicht, wo er war. Es war vollkommen ungewohnt für ihn, den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Doch nachdem er nun schon mehrere Nächte hintereinander nicht schlafen konnte, hatte er sich zu einer Zeit, da andere aufstanden, ins Bett gelegt. Er fühlte sich wie erschlagen. Die Dämmerung brach herein, als er sich anzog und in die eisige Kälte hinaustrat.
    Seine Schritte führten ihn zur Rue de Rivoli, in der es sonntags normalerweise sehr ruhig war. Heute jedoch strömten Zehntausende zu den Geschäften, die an den Sonntagen vor Weihnachten geöffnet waren. Die Menge, die sich unter den prächtigen Weihnachtsdekorationen drängte, schien von einer ungeheuren Verschwendungssucht erfasst worden zu sein. Zwei Frauen, die mehrere Pakete in den Armen hielten, stritten sich um ein Taxi. Aus Lautsprechern hallten Weihnachtslieder.

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