Und wenn es die Chance deines Lebens ist
jetzt bist«, murmelte Jamel.
Dann schwieg er, als würde er auf die Antwort seines Freundes warten.
»Weißt du«, sagte er und richtete sein Handy an die Decke, »du sollst nicht umsonst gestorben sein. Es wird funktionieren, mein Freund. Ja, es funktioniert bestimmt.«
Kurz darauf erhob sich Jamel und ging zu Bett. Er stopfte sich ein paar Kissen in den Rücken und nahm einen Abenteuerroman zur Hand. Jamel seufzte zufrieden. Morgen war Montag – ein schöner Tag.
Um kurz vor fünf Uhr nachmittags stand Pétronille vor Frédérics Wohnungstür. Sie war ein paar Minuten zu früh gekommen. Normalerweise bestellte Frédéric sie immer montagmorgens in die Kanzlei von Dentressengle-Espiard-Smith. Sein Büro, das er mit seiner Sekretärin teilte, einer in höchstem Maße unsympathischen Frau, bot einen wunderschönen Blick auf die Champs-Élysées. Aber heute hatte Frédéric sie zu sich nach Hause bestellt, und zwar zum späten Nachmittag. Pétronille hatte den Tag damit verbracht, auf einem Bleistift herumzukauen, und sich bemüht, keine Flecken auf ihr Kleid zu bringen, das sie für diesen Tag ausgesucht hatte. Als sie vor der Tür stand, strich sie das klassisch geschnittene flaschengrüne Kleid, das ihre Kurven und die Farbe ihrer Augen betonte, noch einmal glatt. Pétronilles Füße schmerzten ein wenig, weil sie heute besonders hochhackige Schuhe trug.
Schließlich öffnete Frédéric die Tür. Er telefonierte gerade und gab ihr, ohne sie eines Blickes zu würdigen, ein Zeichen, im Salon zu warten, während er das Telefonat im Arbeitszimmer fortsetzte. Pétronille fiel auf, dass Frédéric ein uraltes Handy benutzte. Wo war denn sein Smartphone geblieben, das schließlich auf dem neuesten Stand derTechnik war, fragte sie sich. Sie setzte sich auf die Couch, ein Klassiker modernen Designs. Pétronille fand sie äußerst unbequem, zumal sie die ganze Zeit den Bauch einzog. Frédéric telefonierte weiter. Er sprach mit einem Mandanten über Gott und die Welt.
»Okay, perfekt, Richard«, hörte sie ihn sagen. »Ich freue mich sehr, dass zwischen Ihnen beiden wieder alles im Lot ist. Das ist eine gute Nachricht. Eine sehr gute Nachricht. Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie mich einfach an.«
Pétronille wunderte sich, denn derartige Gespräche führte Frédéric selten. Als sie seine Schritte hörte, stand sie auf. In diesem Augenblick klingelte das Telefon erneut, und er kehrte in sein kleines Arbeitszimmer zurück.
Während Pétronille aufrecht auf der Couch saß und wartete, schaute sie sich um. In der Wohnung herrschte etwas mehr Unordnung als gewöhnlich. Sie sah, dass der Kristallkronleuchter verschwunden war. Schon zum zweiten Mal fiel ihr auf, dass einer der Einrichtungsgegenstände fehlte. Vielleicht hatte Frédéric vor, seine Wohnung umzugestalten. Merkwürdig, dass sie keinen Bestellschein und keinen Auftrag für den Abtransport der Möbelstücke gesehen hatte. Pétronille vergaß dieses Detail schnell wieder, denn etwas anderes erregte ihre Aufmerksamkeit. Auf der Konsole stand ein Bilderrahmen. Zuerst glaubte sie, die Zeichnung in dem Rahmen, die Frédéric kürzlich gekauft haben musste, stamme von einem zeitgenössischen Künstler. Doch dann erkannte Pétronille, was es war: die Schatzkarte von Fabrice Nile. Sie stand auf, um sich die kleinen Zeichnungen genauer anzusehen, die auf dem Foto im Krankenhaus nicht richtig zu erkennen waren. Maurice hatte recht. Sie waren wirklich gut gelungen. Neben dem Bilderrahmen lag eine Schachtel, deren Deckel ein Stück geöffnet war. Auf einem Brief konnte sie den Namen Fabrice Nile lesen. Pétronille überzeugte sich, dass die Tür des Arbeitszimmers geschlossen war, und nahm den Deckel ab, um den Brief zu lesen. Es handelte sich um das Schreiben eines Notars bezüglich einer Erbschaft. Pétronille sah auch die Verse, die mit roter Tinte auf die Rückseiten von Fahrscheinen und Eintrittskarten geschrieben worden waren. Ein großer Aufbruch zu neuen Impressionen. Folge dem Weg der Abgewiesenen. / Erinnere dich an die große Liebe, die den Winter tief in ihrem Inneren verbarg. / Fange rechtzeitig den Zauber deines Teiches ein, oder du herrschst bald über ein Meer welker Blüten. / Die erhabene Ruhe der Dinge.
So viele Rätsel! Aber diese Abgewiesenen ... Laut Maurice waren das die Patienten im Krankenhaus, die am Wochenende nicht nach Hause gingen. Warum stand das auf der Rückseite einer Zugfahrkarte nach Eragny? Und was bedeutete der Rest? Wusste
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