Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Frédéric freute sich im Stillen, dass er sich gegen all das entschieden hatte. Keine Familie, keine Geschenke, keine Zugeständnisse an diesen kommerziellen Wahnsinn, den man Weihnachten nannte. Und das war auch gut so, denn schließlich war er völlig abgebrannt. Er dachte an Marcia und zwang sich, diesen Gedanken zu verdrängen.
Frédéric bog in eine andere Straße ein und gelangte schließlich an die Seine. Dort konnte er ungehindert spazieren gehen und nachdenken. Er atmete die Winterluft tief ein und sagte sich, dass vielleicht doch alles gut werden würde. Einen kurzen Moment glaubte er daran, dass Fabrice Nile in sein Leben getreten war, um es durch schöne Dinge zu bereichern. Um in deren Genuss zu gelangen, brauchte er sich nur führen zu lassen. Unbefangen zu diesen sonderbaren Ausflügen aufbrechen. Es dem Schicksal überlassen, ihm den Weg zu weisen. Dieser Augenblick ging allerdings schnell vorüber und gewährte von Angst überschatteten Szenarien Raum.
Er erinnerte sich wieder an sein gestriges Gespräch mit Jamel. Sie saßen beide im Zug nach Paris. Frédéric hatte versucht, Jamel über das Gemälde auszufragen, das Fabrice ihm vor seinem Tod hatte schenken wollen. Angeblich wusste sein neuer Freund nichts darüber. Oder er wollte nichts sagen.
»Er hat mich mehrmals gebeten, ihm zu helfen, dem Rechtsanwalt ein Bild zu bringen«, sagte Jamel. »Ich versprach es ihm, obwohl er nur ganz allgemein von dem ›Bild für den Anwalt‹ sprach. Wissen Sie, das war kein leeres Versprechen. Ich hätte alles für ihn getan. Doch der Arme starb, ehe er mir Näheres sagen konnte. Wenn ich jetzt so recht darüber nachdenke, glaube ich, dass er mir gar nicht verraten wollte, um was genau es ging. Er wollte nur mein Versprechen, dass ich ihm helfen würde. Da haben wir den Schlamassel. Wenn Sie eine Idee haben, was wir tun können, ich bin dabei.«
Frédéric dachte nach. »Sie haben dieses Bild natürlich nie gesehen.«
»Nein. Er hat jedoch gesagt, dass es von Monet ist.«
Frédérics Herzschlag setzte aus. »Claude Monet?«
»Ach, wissen Sie, ich und Vornamen ...«
»Sie sind sicher, dass er Monet gesagt hat?«
»Da bin ich mir ganz sicher, weil er den Namen nämlich ähnlich ausgesprochen hat wie Money . Give me the money .« Jamel schwang die Arme wie ein Rapper und lachte über seinen eigenen Witz.
»Glauben Sie, es geht um einen echten Monet?«, fragte Frédéric nach kurzem Schweigen.
»Woher soll ich das wissen? Na ja, ich will Sie nicht enttäuschen ... So ein Monet ist doch einen Haufen Schotter wert, oder? Also, ich kenne mich mit Kunst nicht so aus, aber ab und zu sehe ich mir die Nachrichten an. Sie glauben doch nicht etwa, dass Fabrice, der sich nur jeden zweiten Tag eine warme Mahlzeit leisten konnte, etwas besaß, das man in Museen findet? Außerdem hatte er nicht nur Kontakt zu Leuten mit weißer Weste. Auf der Straße treiben sich ja bekanntlich die seltsamsten Typen herum. Übrigens, hat Fabrice Ihnen außer der Zugfahrkarte noch etwas hinterlassen?«
Frédéric musterte Jamel und senkte dann ausweichend den Blick. »Nein.«
Jamel sah geknickt aus und blickte ebenfalls zu Boden.
Schließlich hielt der Zug am Gare Saint-Lazare an.
Inmitten all des Lärms der Menschenmenge wandte sich Jamel an Frédéric: »Hören Sie, ich habe Ihnen so ziemlich alles gesagt, was ich weiß. Was Fabrice angeht, hat er manchmal ganz schönen Blödsinn gefaselt. Ich war daran gewöhnt und ließ ihn reden. Vielleicht ergibt irgendetwasdavon für Sie einen Sinn. Wenn Ihnen also noch etwas einfällt, könnten wir das Rätsel vielleicht gemeinsam lösen. Ich habe es Fab versprochen. Betrachten Sie es als Versprechen unter alten Freunden, okay? Jedenfalls würde es mich freuen, wenn Sie Ihr Bild bekommen, ob es nun ein Vermögen wert ist oder gar nichts. Wenn Fab wollte, dass Sie es bekommen, sollen Sie es haben. Er war mein Kumpel, verstehen Sie? Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben. Und auf Jamel ist Verlass. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer, und wenn Sie Lust haben, rufen Sie mich an.«
Frédéric schrieb sich die Nummer auf, die Jamel ihm nannte, schüttelte ihm die Hand und schaute ihm nach, wie er hinkend in der belebten Straße verschwand. Als Jamel ihm die Hand hingestreckt hatte, war er so gerührt gewesen, dass er einen Kloß im Hals bekam. Welch unerwarteter Tiefsinn bei diesem ein wenig verloren wirkenden Typen. Frédéric hatte den Anflug von Zuneigung zu dem fremden Mann auf seine
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