Und wenn es die Chance deines Lebens ist
Mercedes stieg, lief Dorothée, schon ganz außer Puste, die Treppe zu Pétronilles Wohnung hinauf. Tags zuvor hatte ihre Schwester sie angerufen. Es dauerte jedoch eine Weile, bis Dorothée den Grund für Pétronilles Weinen und Schluchzen begriff, das deren Erklärungen immer wieder unterbrach: Ihr Chef hatte sie gefeuert. Nach einer Stunde war es Dorothée gelungen, ihre Schwester einigermaßen zu beruhigen. Ihr Angebot, zu ihr zu kommen, lehnte Pétronille jedoch ab. In den letzten beiden Monaten hatte sie wie eine Verrückte gearbeitet, jetzt wollte sie nur noch eins, und zwar schlafen. Ihre ältere Schwester ließ sie ausschlafen. Inzwischen war es vier Uhr nachmittags, und Pétronille ging nicht ans Telefon. Die beiden Schwestern wohnten fünf Metrostationen voneinander entfernt, und da die Metro ausgefallen war, legte Dorothée die Strecke zu Fuß zurück. Sie trug ein hübsches, kurzes Kleid, unter dem sich ihr runder Bauch abzeichnete, eine dicke Wollstrumpfhose und Moonboots. In einer großen indischen Stofftasche hatte sie hübsche Ballerinas aus Lackleder mitgenommen. Um nicht auszurutschen, setzte sie langsam einen Fuß vor den anderen. Endlich kam sie bei Pétronille an. Sie hoffte, dass ihre Schwester zu Hause war, denn sie wollte sie trösten oder wenigstens eine heiße Schokolade mit ihr trinken.
Dorothée klingelte und hörte keine Minute später Schritte in der Wohnung. Das war ein gutes Zeichen. AlsPétronille die Tür öffnete, brach Dorothée sofort in Gelächter aus. Ihre Schwester war von oben bis unten mit Mehl bestäubt. An einer Wange klebte Schokolade, und in ihren Haaren glaubte Dorothée Eischnee zu erkennen. Pétronilles Backschürze, die sie über ihrem gestreiften Flanellpyjama trug, war mit Karamell verschmiert. Dorothée reckte den Hals und blickte ihrer Schwester über die Schulter. Die ganze Küche war voller Windbeutel.
Pétronille hatte einen Finger in den Mund gesteckt und schaute ihre Schwester an wie ein hilfloses Kätzchen.
»Ich habe mir den Finger verbrannt, als ich die Karamellmasse probiert habe.«
Dorothée lachte und umarmte ihre Schwester. Dann führte sie Pétronille zur Spüle und ließ kaltes Wasser über ihren Finger laufen. »Zeig mal«, sagte sie.
Sie spielte die Krankenschwester, und Pétronille ließ es sich gern gefallen. Dann forderte Dorothée ihre Schwester auf, ein hübsches Kleid und ihre gefütterten Stiefel anzuziehen, Pumps in eine Tasche zu packen und ihr zu folgen.
Die beiden Schwestern liefen durch die Stadt und wechselten in einer Toreinfahrt die Schuhe. Schließlich stießen sie die Tür einer derzeit sehr angesagten Cocktailbar auf.
Sie suchten sich einen schönen Platz, und Dorothée bestellte zwei Cocktails, für sich einen ohne und für Pétronille einen mit Alkohol.
»So, und jetzt erzählst du mir mal die ganze Geschichte«, sagte sie und sah ihre Schwester erwartungsvoll an.
Frédéric und Jamel ließen nichts unversucht. Sie boten einem Lastwagenfahrer, der mit 30 Kilometern pro Stunde in Richtung Paris fuhr, sogar Geld an, damit er sie mitnahm. Als der Laster fünf Kilometer hinter Vétheuil ins Rutschen geriet und im Straßengraben landete, standen sie Todesängste aus. Die vordere Stoßstange des Lastwagens hatte sich in die Hinterachse des Wagens vor ihnen geschoben. Zum Glück wurde niemand verletzt. Allerdings mussten Frédéric und Jamel zitternd und knietief im Schnee stehend zwei Stunden am Straßenrand warten. Frédéric rief in seiner Kanzlei an. Eine halbe Ewigkeit später setzte der Abschleppwagen sie am Ortsausgang von Saint-Martinla-Garenne bei einer Familie ab, die Zimmer vermietete.
Um 18 Uhr saßen Frédéric und Jamel bei einer Tasse dampfendem Kaffee im Wohnzimmer. Im Kamin brannte ein Feuer, und die beiden Männer wärmten sich auf. Sie trugen trockene Kleidung, die dem Ehemann ihrer Zimmerwirtin gehörte. Frédérics Hose war zu kurz und Jamels zu lang. Als sie zusammen im Schnee gestanden hatten, beschlossen sie irgendwann, sich zu duzen. Während sie auf den Abschleppwagen warteten, unterhielten sie sich angeregt. Sie nutzten die Zeit, um sich besser kennenzulernen, ohne sich jedoch Geheimnisse anzuvertrauen. Jetzt kicherten sie wie alte Freunde, und Jamel meinte, es ginge nichts über einen Schneesturm, um das Eis zu brechen.
Ihre Zimmerwirtin, die normalerweise kein Essen anbot, servierte ihnen gut gelaunt eine selbst gekochte Suppe und Tiefkühlpizza. Die beiden starben schon vor Hunger. Frédéric
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