Und wenn es die Chance deines Lebens ist
das Wetter, die Zeit im Krankenhaus und vor allem über das ungenießbare Essen. Er erzählte ihr von dem »Schwarzhandel« mit den Pépitos, diesen leckeren Keksen, und den Mini-Salamis, die die Patienten sich heimlich gegenseitig zusteckten. Bald würden ihre Windbeutel ebenfalls auf dem Schwarzmarkt des Krankenhauses gehandelt werden, und die Patienten würden sich darum reißen. Gilles kontrollierte den Schwarzhandel mit den Pépitos. Sie solle sich mit ihm in Verbindung setzen.
»Gilles lässt sich nicht unterkriegen. Er gehört zu denen, die am Wochenende nicht zu ihren Familien nach Hause fahren. Ich gehöre auch dazu. Ein anderer Patient nennt uns die ›Abgewiesenen‹. Aber lassen Sie sich nicht vom äußeren Eindruck täuschen. Wir sind eine fröhliche Bande und machen uns gegenseitig Mut, wenn ... na ja,Sie wissen schon. Und nun werden uns Ihre Windbeutel vollends davor retten, in Melancholie zu versinken.«
»Ihre Familie ...«, begann Pétronille.
»Das hier ist meine Familie«, unterbrach Ernest sie. »Wissen Sie, Pétronille ... wir kennen uns kaum, und ich danke Ihnen für Ihr blindes Vertrauen. Sie sind ein großmütiger Mensch. Ach, wissen Sie ... ich musste in meinem Leben entsetzliche Entscheidungen treffen. Entsetzliche Entscheidungen.«
Entsetzliche Entscheidungen , schoss es Pétronille immer wieder durch den Kopf. Ernest schien in seine Welt jenseits des Krankenhauses eingetaucht zu sein, in Ereignisse der Vergangenheit, die er nicht mehr rückgängig machen konnte und die ihn unendlich traurig stimmten. Pétronille hielt den Atem an und rüstete sich innerlich dafür, dass Ernest ihr gleich sein Herz ausschütten würde.
»Besuchen Sie mich noch einmal, Pétronille?«, fragte er stattdessen mit einem freundlichen Lächeln. Es war seine höchst elegant verpackte Bitte an sie, ihn nun allein zu lassen.
»Ich komme wieder, Ernest. Welche Sorte Windbeutel essen Sie am liebsten?«
»Ich bin mir sicher, dass die Windbeutel, die Sie mir schenken, alle fantastisch schmecken.«
»Okay.« Pétronille lächelte. »Hier sind welche mit Vanillecreme. Genießen Sie sie, und lassen Sie sich in eine exotische Inselwelt entführen. Nächstes Mal bringe ich Ihnen dann andere mit.«
»Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, junge Frau. Sie haben mich jetzt schon sehr verwöhnt ...«
»Ach, lieber Ernest, es sind doch nur Windbeutel. Ich komme wieder.«
Sie nahm seine knochige Hand in ihre beiden warmen Hände und ging hinaus.
Von dem Besuch bei Ernest Villiers war Pétronille so durcheinander, dass sie Maurice einfach übersah, der in der Kantine saß und zu ihr herübergrüßte. Sie stieg in den Aufzug und fuhr hinunter.
Maurice saß mit Gilles, einem anderen Patienten, der 60 Jahre jünger war als er, in der Kantine und trank eine Tasse Kaffee. Gilles hatte ein Tattoo auf dem Arm. Dort stand in Frakturschrift das Wort TRUTH , und auf dem Kopf trug er eine Wollmütze mit einer Totenkopf-Applikation.
»Ich verstehe nicht, wie du bei dieser Hitze eine Mütze tragen kannst«, sagte Maurice. »Sie haben die Heizung noch höher gedreht. Kaum zu glauben.«
»Hm«, murmelte Gilles. »Wer war denn die junge Frau, die du gerade gegrüßt hast?«
»Ich weiß es nicht genau. Sie war vor ein paar Tagen schon mal hier und wollte etwas über Fabrice wissen. Eine Freundin der Familie, glaube ich.«
»Über Fabrice?«, fragte Gilles argwöhnisch und stellte seine Cola auf den Tisch. »Und was hast du gesagt?«
»Was soll ich schon gesagt haben?«, erwiderte Maurice. »Ich habe ein bisschen erzählt, von dem Kurs, der hier zweimal pro Woche stattfindet, sonst nichts. Sie hatte es eilig.«
»Und was hat sie jetzt hier gemacht?«, fragte Gilles und starrte Maurice an.
»Ich glaube, sie hat Ernest besucht.«
Der alte Mann und der Junge sahen sich an. Allmählich ahnte Maurice, was das bedeutete.
»Ja, du hast recht. Das ist sonderbar.«
»Wir sollten mit dem Chef darüber sprechen«, meinte Gilles und stand auf. Er half Maurice, die Pantoffeln richtig anzuziehen, und reichte ihm seine Krücke. Dann gingen sie langsam Arm in Arm den Gang der dritten Etage hinunter.
Pétronille schlenderte durch die Rue de la Verrerie im Marais-Viertel. Sie hatte im Bazar de l’Hôtel de Ville, dem großen Warenhaus, ein paar Besorgungen gemacht. Während die breite Menge sich auf Weihnachtsgeschenke stürzte, gab Pétronille in der Abteilung für Küchengeräte ein kleines Vermögen aus. Ihre innere Stimme mahnte sie zu
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