Und wenn es die Chance deines Lebens ist
und ich bekam allmählich einen Begriff davon, was der Künstler hier vor langer Zeit gesehen hatte.
›Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ernest Villiers‹, sagte ich.
Der Mann drückte meine ausgestreckte Hand und erwiderte lächelnd: ›Simon Offenbach.‹«
Frédéric fand niemanden mehr auf der Brücke vor. Er fröstelte am ganzen Körper. Seine Füße und Hände begannen in der Eiseskälte zu schmerzen. Es war wohl besser, nach Hause zu fahren. Dieser Brief war der Grund, warum Fabrice Nile wollte, dass er Monets Garten besuchte. Nun hatte er den Brief bekommen, und er konnte gehen. Als er inmitten der Stille ein Geräusch vernahm, drehte er sich um. Es war der Schrei einer Elster. Sie hatte auf einem kleinen Schild gesessen, ehe sie davonflog.
Warum starrte Frédéric nun dieses Stück Holz an? Es war nichts weiter als eine Informationstafel für Touristen. Dennoch folgte Frédéric seiner inneren Stimme, einer abergläubischen Anwandlung, und verließ die Brücke, um zu lesen, was auf dem Schild stand.
»Es hat einige Zeit gedauert, bis ich meine Seerosen verstanden habe ... Ich habe sie gepflegt, ohne daran zu denken, sie zu malen ... Eine Landschaft hinterlässt einen so tiefen Eindruck meist nicht an einem einzigen Tag ... Eine plötzliche Eingebung ließ mich den Zauber meines Teiches entdecken, und ich nahm meine Staffelei. Von da an habe ich kaum noch andere Motive gemalt.«
Claude Monet
Frédéric war sprachlos. Er nahm die Eintrittskarte aus der Tasche und las noch einmal den Text auf der Rückseite.
Fange rechtzeitig den Zauber deines Teiches ein, oder du herrschst bald über ein Meer welker Blüten.
Frédéric packte die Wut. War das der Schatz seines Lebens, was er hier vor Augen hatte? Denn das bedeutete das Rätsel in diesem Fall. Jemand wollte ihm mit diesen Stammtischweisheiten eine Lektion erteilen.
Auf einmal wurde ihm alles klar. Frédéric hatte den Jugendlichen in dem Zug und den Kapitän vor Augen ... Jede einzelne dieser Begegnungen war Teil des Plans. Alle Details, alle Gespräche, nichts hatten sie dem Zufall überlassen, alles enthielt Hinweise. Es war kein Zufall, dass noch ein weiterer Besucher um diese Uhrzeit den Garten besuchte. Das Treffen mit ihm gehörte ebenfalls zu dem Plan. Frédérics Herz klopfte zum Zerspringen. Er musste diesen Spaziergänger finden, den Fremden, der durch den Garten schlich. Er musste ihn um jeden Preis finden und ihn zum Reden bringen. Einem cholerischen Wutanfall nahe, rannte Frédéric wie ein Verrückter durch den Garten. Er lief immer weiter, aber es gelang ihm nicht, den Fremden zu erwischen. Wie alle anderen war auch er verschwunden. Hinter den kahlen Trauerweiden bewegten sich Schatten im fahlen Winterlicht, doch Frédéric vermochte die Gestalt nicht richtig zu erkennen. Wie war es möglich, dass diese Fremden, die mit ihm sprachen, so schnell verschwanden? Waren auch sie nur Geister?
So schnell er konnte, rannte Frédéric durch den Garten. Zweimal rutschte er im Schnee aus, erhob sich wieder und lief weiter. Dann blieb er stehen. Wieder stand er auf der japanischen Brücke. In seiner Brust tobte unbändiger Zorn, und ihm brach der kalte Schweiß aus. Er hatte den gesamten riesigen Garten durchquert.
»Ich weiß, dass ihr da seid. Zeigt euch!«, schrie er.
Auf der Stelle verstummten alle Geräusche in Monets Garten. Und Frédéric erblickte eine Gestalt hinter den Trauerweiden.
»Simon Offenbach bestand darauf, mir den Garten, in dem es viele unzugängliche Winkel gab, in seiner Gesamtheit zu zeigen. Er nahm eine kleine Sichel mit, um das Gestrüpp zu entfernen, sodass wir alles erkunden konnten. Jedesmal wenn wir stehen blieben, ließ er vor meinen Augen auf wunderbare Weise deutlich die Bilder des Impressionisten erstehen, zu denen ihn dieser Ort inspiriert hatte: Das Haus des Künstlers vom Rosengarten aus gesehen , Die japanische Brücke , Das Boot , Die Seerosen, Gelbe und malvenfarbene Iris , Der Rosenweg , Die Trauerweide , Der Garten des Künstlers in Giverny . Darüber hinaus erweckte er auch das zum Leben, was er die ›Wahrheit des Gartens‹ nannte, und zwar die Namen aller Pflanzen und die Form der Blumenbeete, wie sein Schöpfer sie ersonnen hatte. Wie viel Zeit verbrachten wir an jenem Tag in diesem Garten? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich hatte das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben, und mein neuer Freund sagte zu mir, dass dies eines seiner großen Probleme sei: Sobald er mit der Gartenarbeit beginne,
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