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Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Und wenn es die Chance deines Lebens ist

Titel: Und wenn es die Chance deines Lebens ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caroline Vermalle
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Trauerweiden geweht.
    Es war eine Vogelscheuche.
    In diesem Augenblick setzte der Schneefall wieder ein, und es war, als zeigte der Garten den Menschen an jenem Wintermorgen noch eine andere Seite seiner Pracht. Doch Frédéric hatte kein Auge dafür. Wenn er sich hätte sehen können, allein, mitten in Claude Monets größtem Werk, in dieser Winterlandschaft, die er so sehr liebte! Er hätte Teil eines berühmten Gemäldes oder eines Kalenderblattes für den Monat Dezember sein können, so sehr verschmolzen er und seine Spuren im Schnee mit der Schönheit, die im kalten Licht dieses traumhaften Wintertages glitzerte.
    Doch er sah gar nichts, sondern spürte nur seine Wut, die rote Kreuze in den weißen Garten malte, und trat mit dem Fuß gegen die japanische Brücke. Von seinem eigenen Wagemut angespornt, begann er Iris und Rosensträucher herauszureißen. Mit beiden Händen wühlte er in der grauen Erde und schlug auf Trauerweiden und Bambussträucher ein.
    Der Sicherheitsdienst der Monet-Stiftung brauchte nicht lange, um diesen Verrückten zu ergreifen, der den Garten zerstörte. Er ergab sich, ohne Widerstand zu leisten. Als die Sicherheitskräfte ihn nach seinem Namen fragten, sagte er völlig ernst: »Fabrice Nile.«

»Als ich an jenem Abend nach Hause zurückkehrte, belog ich meine Frau zum ersten Mal. Ich sah Simon wieder und belog sie erneut. Und so ging es weiter. Die Liebe zwischen Simon und mir wuchs, und sein Optimismus brachte mich so weit, den anderen Teil meines Lebens praktisch auszublenden. Fast zwei Wochen lang lebten wir unsere heimliche Liebe aus, und, ja, ich glaube, ich war trunken vor Glück. Mein Glaube an die Zukunft war ebenso blind wie mitreißend. Alles war neu. Fortan hatte mein Leben nur noch in Simons Gesellschaft einen Sinn. Wir trafen uns in Giverny oder in seinem Haus in Vétheuil. Ich weiß nicht mehr, wie ich damals glauben konnte, dieses Doppelleben sei von Dauer. Wahrscheinlich verschwendete ich überhaupt keinen Gedanken daran. Ich lebte in den Tag hinein, und das intensiver als jemals zuvor. Ich lebte zwei, drei, tausend herrliche Leben. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich ganz ich selbst, und es war für mich wie eine Wiedergeburt.
    Unsere angeblich widernatürliche Beziehung verstieß zwar nicht gegen das Gesetz, doch sie war gesellschaftlich geächtet. Zu jener Zeit war die sexuelle Revolution der Siebzigerjahre noch nicht in den Kleinstädten der Normandie angekommen. Ich frage mich, ob das heute der Fall ist. Wir mussten uns verstecken. Simon war unverheiratet und hatte im Gegensatz zu mir nicht so schwer an der Last unserer Heimlichkeiten zu tragen. Seine Unbekümmertheit war in gleichem Maße ansteckend wie seine Freude. Nach einigen Tagen wurden wir nachlässig und unvorsichtig mit der Wahrung unseres Geheimnisses. Und es kam, wie es kommen musste. Am 19. Dezember überraschte uns meine Frau. Die zärtliche Liebe, die sie während unserer neun Ehejahre für mich empfunden hatte, schlug augenblicklich in glühenden Hass um. Sie forderte mich auf, die eheliche Wohnung auf der Stelle zu verlassen. Sie drohte mir, mich öffentlich bloßzustellen und mich zu vernichten, wenn ich nicht sofort und für immer aus ihrem Leben verschwand.
    Es war der 19. Dezember 1979. Fünf Tage vor Weihnachten. Denn ich habe etwas ausgelassen, Pétronille ...«
    In diesem Augenblick hörte Pétronille, die gebannt seinen Worten gelauscht hatte, eine fröhliche Stimme hinter der Tür, die gleich darauf geöffnet wurde. Ernests Gesicht erhellte sich, als Jamel das Zimmer betrat.
    »Ah, Pétronille, darf ich vorstellen. Das ist mein Sohn«, sagte er.
    Pétronille erstarrte und zupfte an ihrer Strickjacke herum. Für den Bruchteil einer Sekunde setzte ihr Herzschlag aus.

Jamel starrte Pétronille an, und Pétronille starrte Jamel an. Es schien, als seien sie damit vor vollendete Tatsachen gestellt. Natürlich konnte Jamel sie nicht mit den Worten begrüßen:
    »Mademoiselle, ich finde Sie bildhübsch und spüre, dass ich Sie jetzt schon liebe, obwohl ich wirklich keine Ahnung habe, warum, weil ich Sie ja überhaupt nicht kenne, doch vertrauen wir den Schmetterlingen im Bauch und brechen gemeinsam auf, um die Welt zu retten.«
    »Guten Tag«, stammelte er stattdessen.
    Pétronille hätte am liebsten gesagt: »Monsieur, Sie sehen genauso aus wie der Mann, den ich immer gesucht habe. Diese Augen, die mich so zärtlich anschauen. Bitte wenden Sie Ihren Blick nicht ab, denn ich mag wirklich sehr,

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