Und wenn es die Chance deines Lebens ist
verliere er jegliches Zeitgefühl. Das war sicherlich auch der Grund, warum seine winzige Kunstgalerie, die er in der Hauptstraße von Giverny betrieb, kaum etwas abwarf. Das brachte ihn zum Lachen.
Ich verstand noch immer nicht, warum mir sein Gesicht so vertraut vorkam. Es waren nicht allein seine Gesichtszüge. Nachdem wir ein paar Stunden zusammen verbracht hatten, hätte man meinen können, wir wären alte Freunde, die die Gesellschaft des anderen in vollen Zügen genossen. Mehrmals nannte ich ihm Namen von eventuell gemeinsamen Bekannten. Sie waren ihm alle fremd, und er lachte jedes Mal nur.
Immer wieder verschob ich meinen Aufbruch. Nach jeder verpassten Abfahrt nahm ich mir fest vor, ganz bestimmt den nächsten Zug zu nehmen. Und dann den nächsten. Und dann wieder den nächsten. Wir besuchten seine kleine Galerie. Es wurde dunkel. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, aber ich verspürte keinen Hunger. Vor allem hatte ich keine Lust zu gehen.
Neben der Freundschaft zu diesem Mann verblasste plötzlich alles andere. Dieser Don Quichotte, der der Zeit und dem Unkraut den Krieg erklärt hatte, erschloss mir völlig neue Möglichkeiten. Wenn ein ganz normaler Mann den Garten eines der größten Künstler, die es je gegeben hatte, wieder zum Leben erwecken konnte, dann konnte auch ich Großes vollbringen. Dieser Mann verlieh mir Flügel.
Es wurde später und später, und ich lief bereits Gefahr, auch den letzten Zug zu verpassen. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Wir hatten tatsächlich acht Stunden miteinander verbracht. Das war einfach unfassbar. Ich musste mich endlich von ihm verabschieden! Er schlug vor, mich zum Bahnhof zu begleiten. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Die dicken Schneeflocken glitzerten im gelben Lichtder Straßenlaternen. Die Straße war menschenleer. Kurz vor dem Bahnhof, an der Ecke einer kleinen Straße, blieb Simon Offenbach stehen. Er sagte, abfahrende Züge riefen in ihm immer tiefe Traurigkeit hervor. Daher ziehe er es vor, sich hier zu verabschieden. Er wirkte auch tatsächlich sehr traurig. Ich gab ihm meine Karte und versprach, dass wir uns wiedersehen würden. Er schaute mir in die Augen und strich mir mit der Hand über die Wange. Diese Geste erschütterte mich zutiefst.
Meine Wange, die bisher niemand außer ein paar Frauen berührt hatte, die Wange eines verheirateten Mannes. Ich war nämlich verheiratet. Habe ich Ihnen das schon erzählt? Wie konnte dieser Mensch meine Männlichkeit infrage stellen und unsere unschuldige Freundschaft durch solch abartige Hintergedanken in den Schmutz ziehen? Seine zärtliche Geste brannte wie ein Schandmal in mir, und ich verpasste ihm eine so schallende Ohrfeige, dass er beinahe ins Stolpern geriet. Ich dankte Gott, dass die Straße menschenleer war und es für diese unwürdige Szene keine Zeugen gab.«
Ernest verstummte kurz.
»Natürlich hätte ich es dabei bewenden lassen müssen. Ich hätte, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, in meinen Zug steigen und Simon Offenbach vergessen müssen. Doch in meinem Inneren brannte die Schmach weiter, die er mir angetan hatte. Die Straße war menschenleer, und mein Kopf ... mein Kopf. Ich hatte den Kopf verloren. Ich stürzte mich voll Wut auf ihn und ...
... und küsste ihn.«
Jetzt sah er die Erscheinung auf der anderen Seite des kleinen Teiches stehen. Die herabhängenden Zweige der Trauerweide wiegten sich leise im Wind, und ab und zu erhaschte Frédéric einen Blick auf die große schlanke Gestalt in dem dunklen Anzug. Sie verharrte reglos.
»Sie sind es, nicht wahr?«, schrie er in den kalten Wind. »Fabrice Nile? Der Junge mit dem Tattoo, der Kapitän mit den Anglerstiefeln, das waren Sie, hab ich recht? Antworten Sie!« Die Gestalt bewegte sich nicht.
»Und Jamel? Gehört er auch zu dem Komplott? Was wollen Sie von mir? Mich in den Wahnsinn treiben? Wie können Sie es wagen, mich zum Narren zu halten?«, stieß Frédéric keuchend hervor. Ihm rann Speichel aus dem Mund, und seine Wangen waren purpurrot angelaufen.
»Ich habe genug von dieser Scharade, von diesen sinnlosen Sätzen, von diesen Binsenweisheiten! Was wollen Sie von mir? Geld? Ich habe kein Geld mehr. Ich bin ruiniert. Und Sie sind schuld daran, dass ich alles verloren habe. ANTWORTEN SIE MIR!!! «
Frédéric lief zu der kleinen Brücke, um ans andere Ufer zu gelangen. In seinem Inneren tobte ein Orkan. Mitten auf der Brücke hielt er inne. Der Wind hatte dieZweige vom Gesicht der Gestalt hinter den
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