Und wenn es die Chance deines Lebens ist
uns weiter im Kreis. So sind unsere Lebensumstände mit 45 Jahren zwar behaglich, aber unser Leben fühlt sich trotzdem irgendwie verkehrt und unpassend an.
Wenn man sich hingegen die Zeit nimmt, seine Schatzkarte anzufertigen ... Im Schutz der Kursgemeinschaft skizzieren alle ihr persönliches Glück. Nicht das Glück der Durands von nebenan, sondern ihr eigenes. Nach Maß geschneidert. Man geht mit einer schönen Collage nach Hause, die man in der Küche an den Kühlschrank hängen oder in der Schublade seines Nachttischs verstecken kann. Vielleicht vergisst man sie auch wieder, doch in unserem Kopf ist die Collage gespeichert. Und jedes Mal wenn wir eine Entscheidung treffen müssen, orientiert sich das Gehirn, das auf die Verfolgung des Glücks programmiert ist, an dem Bild, das am Kühlschrank hängt. Wenn uns die Motivation beflügelt, unser maßgeschneidertes Glück zu realisieren, wird auch der Wunsch verblassen, sich ein schöneres Auto als das der Durands leisten zu können. Die Schatzkarte gibt dem Gehirn eine Richtung vor, und nun ist es darauf programmiert, diese Richtung einzuschlagen. Und genau das geschieht auch. Eines Tages wacht man auf, und die Träume der Schatzkarte sind Wirklichkeit geworden. Das ist alles. Ich füge immer gerne hinzu, dass man daran glauben muss. Denn für meine Patienten ist der Glaube ... lebenswichtig.«
Alle waren verstummt, sogar Mamie, deren Mundwerk normalerweise niemals stillstand.
»Was würdest du auf deine Schatzkarte kleben, Mamie?«, fragte Ulysse sie.
»Ach, mein Lieber. Euch alle!«
»Okay«, rief Ulysse an die Runde. »Also machen wir ein Foto für Mamies Schatzkarte.«
Alle lachten und schrien durcheinander, als plötzlich jemand laut fluchte. Es war Pétronille, und keine Sekunde später tauchte Dorothée auf.
»Sie hat sich schon wieder an der Karamellmasse verbrannt!«, rief sie.
»Ein medizinischer Notfall. Lassen Sie bitte den Sanitäter durch!«, sagte Jamel und humpelte auf die Küche zu.
Pétronille errötete leicht, als sie Jamel erblickte, oder vielleicht war es auch die kochende Karamellmasse, die ihre Wangen erhitzte. Dorothée brachte ein Pflaster, und Jamel klebte es auf Pétronilles Hand. Er hörte das Tuscheln hinter seinem Rücken, aber das störte ihn nicht, denn er fühlte sich wohl in dieser Familie. Sie knipsten das Foto für Mamie, halfen Pétronille, die Hochzeitstorte zu vollenden, und sprachen über Schatzkarten. Schließlich klingelte es. Ein unglaubliches Chaos brach aus, als sich alle versteckten und pst , pst flüsterten. Sie hörten, wie Dorothée die Tür öffnete und sich bemühte, ihre Eltern möglichst unbekümmert zu begrüßen. Küsschen im Flur. »Der Verkehr auf der Ringautobahn wird immer schlimmer. Dein Vater hat natürlich wieder darauf bestanden, die Ausfahrt Porte des Lilas zu nehmen. Was soll man dazu sagen!« Ein paar Schritte Richtung Wohnzimmer, dann » ÜBERRASCHUNG! « und ein unglaublicher Ausbruch von Freude und Lärm.
Jamels Herz klopfte zum Zerspringen, als inmitten dieser ganz gewöhnlichen Familie sein Blick den von Pétronille traf. Mittlerweile hatte sie die Backschürze ausgezogen und die Spange aus dem Haar genommen, sodass es ihr nun bis auf die Schultern fiel. Sie trug ein blaues Kleid und sah beeindruckend aus.
Frédéric saß noch immer auf der Parkbank und schaute auf die Seine. Er fror, doch ihm fehlte der Mut, nach Hause zu gehen. Alles in seinem Leben schien für einen anderen bestimmt zu sein: die Frau, die er liebte; seine Karriere, sein Sisley, seine Wohnung. Morgen würde er ins Musée d’Orsay gehen, das den Schlusspunkt dieser seltsamen Reise markierte. Frédéric konnte an nichts anderes mehr denken. Geister flogen um ihn herum, Wörter aus fremden Sprachen dröhnten in seinen Ohren, und der Himmel über Paris war mit Zeichnungen von Fabrice Nile übersät. Gespenstische Wesen riefen ihn zu dem Treffen morgen, und als er an den Museumsbesuch dachte, spukten ihm die abenteuerlichsten Geschichten durch den Kopf.
Plötzlich stieg Frédéric ein seltsamer Geruch in die Nase. Ein Obdachloser hatte sich ans andere Ende der Bank gesetzt. Er war um die fünfzig, aber wer wusste das schon so genau bei diesen Männern, deren Gesichter hinter dicken Bärten versteckt waren. Er trug drei oder vier Jacken übereinander und schlürfte Suppe aus einem Styroporbecher. Frédéric wollte schon gehen, doch er konnte seinen Blick nicht von der Seine losreißen. Er würde die Gelegenheit nutzen
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