Und wenn wir fliehen (German Edition)
Blick wurde einen Moment lang starr. Er senkte den Kopf.
»Ist okay, wenn du nicht drüber reden willst«, sagte ich rasch. »Wenn es dich zu sehr belastet, daran zu denken.«
Er seufzte, dann sah er mich mit einem winzigen Lächeln wieder an. »Weißt du, ich hab mich noch gar nicht bei dir bedankt«, sagte er. »Du hast dir so viel Mühe gegeben, dass es mir gutgeht – das hab ich genau gemerkt. Also, danke.«
Er nahm meine Hand, die auf der Couch zwischen uns lag. Da knarrten plötzlich die Treppenstufen, und sein Arm zuckte zurück. Als Tessa das Zimmer betrat, spürte ich, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss, obwohl wir nichts getan hatten, was Freunde nicht tun sollten, und ich seit Monaten nichts weiter als einen guten Freund in Leo gesehen hatte. Und er reagierte bloß so, weil das Geräusch ihn erschreckt hatte, das war alles.
Als Tessa sich herunterbeugte, um Leo einen Kuss zu geben und sich anschließend der Anzuchtschale zuwandte, die sie vor dem Frühstück vorbereitet hatte, dachte ich an mein altes Tagebuch. An die ganzen Gefühle, die dort hineingeflossen waren – wegen Leo, wegen all der schrecklichen Dinge, die um mich herum passierten. Ich weiß nicht, wie ich es ohne das Tagebuch geschafft hätte, in den vergangenen vier Monaten nicht durchzudrehen. Vielleicht brauchte Leo einfach mehr Zeit und mehr Freiraum. Vielleicht musste er die Erinnerungen, die ihn so quälten, erst noch aus dem Kopf bekommen.
»Ich hab immer ein offenes Ohr für dich, wenn du so weit bist, darüber zu reden, was du da drüben erlebt hast«, bot ich ihm an. »Glaub nicht, ich wollte es nicht hören. Mach einfach, wonach dir ist, es liegt ganz bei dir.«
Leo fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar, das sich in eine kurze Stoppelfrisur verwandelt hatte, als es am Tag nach seiner Rückkehr Bekanntschaft mit Onkel Emmetts Rasierapparat machte. Er musste schlucken.
»Es sind nicht die Straßen, die so schlimm sind, Kae«, sagte er. »Es … es sind die Menschen. Du kannst ihnen nicht trauen, auch wenn sie so tun, als wollten sie dir helfen. Ihr dürft mit niemandem reden, wenn ihr es irgendwie vermeiden könnt. Fahrt einfach immer weiter.«
»Ich weiß, wie man vorsichtig ist«, antwortete ich. »Wir hatten hier auf der Insel genug mit dieser durchgeknallten Gang zu kämpfen.«
Er schüttelte den Kopf. »Hier geben die meisten immer noch auf den anderen acht. Aber wenn du rüber aufs Festland kommst, ist das anders.« Er sprach einen Moment lang nicht weiter. »Erinnerst du dich, wie du mir, als wir noch klein waren, immer gesagt hast, die wichtigste Regel im Umgang mit Wildtieren wäre, auf Distanz zu bleiben? Darauf zu achten, dass sie nicht das Gefühl kriegen, man hätte es auf ihr Heim oder ihre Nahrung abgesehen? Genau so musst du jeden behandeln, dem du begegnest. Es wird sie nicht interessieren, dass du versuchst, sie vor dem Virus zu retten. Alles, was sie sehen werden, ist ein Auto mit einem Kofferraum voll Benzin und Lebensmitteln, die sie ein bisschen länger am Leben halten könnten. Und es wird ihnen völlig egal sein, was sie tun müssen, um es zu kriegen.«
Tessa setzte ihre Gießkanne mit einem Rums ab, der so laut war, dass wir uns beide zu ihr umdrehten. »Muss das sein, dass du so mit ihr sprichst?«, herrschte sie Leo an. »Kaelyn weiß bereits, dass es gefährlich wird.«
»Ich denke, sie sollte wissen, wie schlimm es dort wirklich ist.«
»Sie wird schon aufpassen«, erwiderte Tessa. »Das tut sie immer. Was soll das denn bringen, ständig weiter darauf herumzureiten?«
Ein Schatten huschte über Leos Gesicht. »Vielleicht«, antwortete er leise, »halte ich es einfach für richtig, den Leuten die Wahrheit zu sagen. Damit sie dann selbst entscheiden können, wie sie damit umgehen wollen.
Tessa erstarrte. Ohne ein weiteres Wort ließ sie ihre Pflanzen stehen und ging zurück nach oben. Verdutzt schaute ich ihr nach. Leo ließ das Gesicht in die Hände sinken.
»Das hätte ich nicht sagen sollen«, sagte er, die Stimme durch die Handflächen gedämpft. »Ich weiß genau, warum ihr das alles so viel ausmacht. Sie weiß immer noch nicht, was mit ihren Eltern ist.«
»Kommt mir irgendwie vor, als hätte ich was verpasst«, bemerkte ich.
»Wir hatten ein paarmal Streit«, sagte Leo. »Wegen – sie hat mir E-Mails geschrieben, während ich zur Tanzausbildung fort war, weißt du? Bevor die Epidemie sich so weit ausgebreitet hatte, dass auch die Leute in New York drüber redeten. Und sie
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