Und wenn wir fliehen (German Edition)
er und zögerte. »Aber sie haben nie damit aufgehört, das hier zu sehen.« Er zeigte auf sein Gesicht, und ich wusste, dass er die Form seiner Augen und seine olivbraune Hautfarbe meinte. »Sie haben nie vergessen, dass ich adoptiert wurde, dass ich anders bin, kein richtiger Insulaner. Ich wusste, dass sie nicht anders konnten, also hab ich immer so getan, als würde ich es nicht merken. Aber bei dir musste ich mich nicht verstellen. Du hast mich nie nach meiner Herkunft beurteilt.«
Er hatte immer einen so glücklichen Eindruck gemacht. Ich hatte während unserer ganzen gemeinsamen Kindheit überhaupt nicht gewusst, dass er so über die anderen dachte. Aber wahrscheinlich hatte er recht. Ich hatte ihr Verhalten mir gegenüber ja genauso empfunden. Für mich war es leicht gewesen, darüber hinwegzusehen, dass Leo anders war, denn meine Eltern hatten unterschiedliche Hautfarben, und zu allem Überfluss war mein Dad auch noch vom Festland. Ich war auch anders.
»Leo«, sagte ich, aber er sprach einfach weiter.
»Ich war so erleichtert, als ich von der Fähre stieg und du da standst, und du wieder du warst. Als ihr nach Toronto gezogen seid, schienst du plötzlich so … verschlossen, hattest scheinbar an allem etwas auszusetzen, und ich dachte schon, du hättest dich total verändert oder ich hätte dich gar nicht so gut gekannt, wie ich immer angenommen hatte. Und als ihr wieder zurückgekommen seid, kam es mir vor, als würdest du mir aus dem Weg gehen. Ich kann gar nicht glauben, dass ich nach New York gefahren bin, ohne vorher noch mal den Versuch zu machen, mit dir zu reden. Und dann kam das Virus und hat sowieso alles kaputtgemacht …« Er schluckte. »Aber du bist immer noch der Mensch, den ich in Erinnerung habe. Sogar mehr als das. Wie du dich reingekniet hast, um der Stadt zu helfen – du bist einfach wundervoll, Kae. Weißt du das?«
Meine Wangen wurden ganz warm. »Viele Leute helfen«, antwortete ich. »Und Gav ist derjenige, der das Ganze auf die Beine gestellt hat.«
»Aber du bist diejenige, die beschlossen hat, den Impfstoff aufs Festland zu bringen«, sagte er. »Du hast erkannt, dass es jemand machen muss, und du machst es, trotz der ganzen Risiken.«
»Ich schaff das schon.«
»Da kannst du dir nicht sicher sein.« Er kam einen Schritt näher. »Hör mal, ich weiß, dass sich nichts ändern wird; du hast Gav und ich hab Tessa, und das ist … das ist gut so. Aber jetzt gehst du fort, und dieses Mal sehe ich dich vielleicht wirklich nie wieder. Ich will, dass du weißt, was das für mich bedeutet und wie traurig ich bin, dass ich nicht schon früher versucht habe, die Dinge zwischen uns wieder in Ordnung zu bringen, und wie sehr ich mir wünsche, dass du gesund zurückkommst.«
Er nahm mein Gesicht zwischen die Hände und küsste mich. Es war ein ganz sanfter Kuss, aber so ausdauernd und bestimmt, dass meine Lippen sich seinen automatisch öffneten. Dann fing ich mich wieder und erstarrte. Was machte er da? Was machte ich da?
Ich hob die Arme und schob ihn von mir, und plötzlich war er wieder ein anderer. Er schaltete zurück auf normal, ließ die Arme sinken und stand mit zitternden Schultern da.
»Tut mir leid«, sagte er. »Das wird nicht wieder vorkommen. Bitte pass auf dich auf da drüben, Kae.«
Und dann drehte er sich um und lief hinaus in den Schnee.
Am nächsten Morgen hatte der Wind sich gelegt. Es gab noch einen kurzen Schneeschauer, doch bis nach dem Mittagessen war auch der vorüber.
»Wir warten am besten bis morgen und brechen auf, sobald es hell wird«, sagte Gav. »Immerhin wollen wir am ersten Tag so weit wie möglich kommen.«
Ich wäre am liebsten sofort losgefahren, aber er hatte natürlich recht. Es war besser, möglichst ausgeruht zu starten. Und so blieb mir auch noch ein bisschen mehr Zeit mit Meredith, bevor wir Abschied voneinander nehmen mussten. Schließlich marschierten wir alle mit den Frettchen in den Garten hinters Haus.
Das Grundstück grenzte an die Meerenge, so dass der Garten direkt bis ans Ufer reichte. Fossey sauste zum Wasser, Meredith hinter ihm her. Und ich konnte Mowats Leine nicht mehr halten, als er losrannte, um sich zu den beiden zu gesellen. Hinter mir standen Leo und Tessa Arm in Arm. Ich versuchte sie nicht zu beachten, doch jedes Mal, wenn Leo sich bewegte, überkam mich ein Kribbeln, als besäße ich einen zusätzlichen Sinn, der nur auf ihn ausgerichtet war.
Seit dem Vorfall in der Garage tat er, als wäre nichts passiert,
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