Undercover
Besonderes war. Er war ihnen genug. Und dann jene Nacht, und Nana, die Zauberin, sah es nicht kommen und konnte nichts dagegen tun.
Jene eiskalte Nacht, als sie ihren sie anhimmelnden Enkelsohn mitnahm auf eine ihrer geheimen Missionen, und sie hatte nicht die geringste Vorahnung, dass irgendetwas nicht stimmte. Wie konnte das sein? Nicht die leiseste Vermutung, nicht einmal als sie nach Hause kamen, die Tür öffneten und ihnen die vollkommenste Stille entgegenschlug, die Win je in seinem Leben vernahm. Anfangs dachte er, es sei ein Spiel. Seine Eltern und sein Hund im Wohnzimmer, die sich tot stellten.
Danach ging er nie wieder mit Nana auf ihre geheimen Missionen, hatte kein Interesse mehr an ihrer mystischen Lehre, die so vielen Menschen etwas zu bedeuten schien. In seiner Jugend gaben sich immer neue Fremde die Türklinke in die Hand. Hinterbliebene, Hilflose, Verzweifelte, Verängstigte, Kranke. Alle zahlten Nana, was sie konnten, was auch immer ihnen zur Verfügung stand: Essen, Haushaltswaren, Kleidung, Kunst, Blumen, Gemüse, Handarbeit, Haarschnitte, sogar medizinische Versorgung. Es war unwichtig, wie wenig oder was es war, doch irgendetwas musste es sein. Nana nennt es einen gleichwertigen Austausch von Energie. Ihrer Ansicht nach ist ein gestörtes Gleichgewicht von Geben und Nehmen die Ursache allen Übels in der Welt.
Ohne Zweifel ist es die Wurzel allen Übels zwischen Win und Lamont. Es liegt auf der Hand, dass es bei ihr kein quid pro quo gibt. Win mustert ihren schwarzen Mercedes mit dem mechanisch aufwendigen, eleganten Klappdach, glänzend wie Vulkanglas, rund einhundertzwanzig Riesen, erste Hand. Lamont ist es egal, wie viel sie bezahlt, sie ist zu stolz, um einen Rabatt zu bitten, sie genießt das Gefühl, den offiziellen Listenpreis zu zahlen, sich alles leisten zu können, was sie haben will. Win stellt sich vor, wie das sein muss. Anwalt zu sein, Justizminister, Gouverneur oder Senator, Geld zu besitzen, eine außergewöhnliche Frau und Kinder zu haben, die stolz auf einen sind.
Das wird es für ihn nie geben.
Er wäre niemals zum Jurastudium, auf einer Handelshochschule, für ein Doktorandenprogramm zugelassen worden - weder in der Ivy League noch sonst irgendwo -, selbst wenn er Kennedy oder Clinton geheißen hätte. Er kam nicht mal auf ein anständiges College, über seine Bewerbung in Harvard haben sie wahrscheinlich gelacht, uninteressant, dass sein Vater dort Professor gewesen war. Gut, dass seine Eltern nicht mehr da waren, als seine Vertrauenslehrerin auf der High School bemerkte, für einen so »klugen Jungen« hätte Win die schlechtesten Ergebnisse im Schuleignungstest, die sie je gesehen hätte. Und das alles nur wegen seiner Prüfungsangst.
Plötzlich kommt Lamont aus der Hintertür des Gerichts, sie ist in Eile, Aktentasche, Schlüssel in der Hand, das Bluetooth-Headset blinkt blau, während sie mit dem Handy telefoniert. Win kann nichts verstehen, aber man merkt, dass sie sich mit jemandem streitet. Sie steigt in ihren Mercedes, rast an Win vorbei, ohne ihn zu bemerken, die erfolgreiche Staatsanwältin hat keine Veranlassung, auf Nanas heruntergekommenen Buick zu achten. Win hat ein sonderbares Gefühl und beschließt, ihr zu folgen. Auf der Broad Street bleibt er mehrere Wagen hinter ihr, ebenso auf dem Memorial Drive am Charles River entlang und zurück zum Harvard Square. Auf der Brattie Street parkt sie ihren Mercedes versteckt in der Auffahrt eines viktorianischen Hauses, das Win nach Lage und Grundstücksgröße auf sechs oder sogar acht Millionen schätzt. Kein Licht, es wirkt unbewohnt und schlecht gepflegt, nur das Gras ist gemäht.
Win fährt um den Block, hält einige Straßen weiter und holt die kleine Stabtaschenlampe aus Nanas Handschuhfach, die er dort aufbewahrt. Er schleicht zurück zum Haus und stellt fest, dass das Gras und einige Büsche nass sind. Vor kurzem muss gesprengt worden sein. Hinter einem gardinenverhangenen Fenster geht ein schwaches Licht an, ein kaum wahrnehmbares Flackern, das sich ganz leicht bewegt. Eine Kerze. Win schleicht lautlos weiter und erstarrt, als er hört, wie eine Hintertür geöffnet wird und ins Schloss fällt. Vielleicht Lamont, vielleicht jemand anders. Sie ist nicht allein. Stille. Win wartet, überlegt, ob er ins Haus platzen und sich vergewissern soll, dass es Lamont gutgeht … Ein schlimmes Dejá-vu-Gefühl. Letztes Jahr. Ihre Tür war angelehnt, ein Benzinkanister lag im Gebüsch, dann das, was er oben
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