Undercover
fährt Stump fort. »Zumindest gab es Regeln. Es wurden keine alten Omas zusammengeschlagen, keine Autos geklaut, keine Häuser verwüstet, keine kleinen Kinder belästigt. Es wurde niemandem wegen ein paar Dollar in den Kopf geschossen - oder ganz ohne Grund.«
Die dünne Frau schiebt zwei leere Einkaufswagen zu ihrem Pick-up.
»Kupfer. Auf dem chinesischen Schwarzmarkt gibt es dafür im Moment ungefähr acht Riesen pro Tonne«, wechselt Stump plötzlich das Thema. Sie folgt Wins Blick. »Verstehen Sie jetzt langsam, warum ich mit Ihnen hergefahren bin?«
»Raggedy Ann«, sagt er. »Oder wie auch immer sie heißen mag.«
Sie lädt Kupferabfälle in einen der Einkaufswagen.
»Der Superdieb«, sagt Stump.
»Was, die Bekloppte?«, fragt Win ungläubig.
»Nein, die nicht. Die klaut zwar auch, aber hinter der bin ich nicht her. Ich will den Typ, der die großen Dinger dreht. Der Wasserleitungen, Fallrohre, Dächer abmontiert. Er klaut meilenweise Draht von Starkstromleitungen, Baustellen, knackt die Materialwagen der Telefongesellschaften. Kann sein, dass er in Wirklichkeit mit Drogen handelt - von dem Geld Oxycodon kauft und es dann auf der Straße vertickt. Oxycodon ist ein momentan schwer angesagtes halbsynthetisches Opiat, für ein Milligramm zahlt man einen Dollar. Drogenkriminalität führt bekanntlich zu anderen Verbrechen und früher oder später zu Gewalt. Beispielsweise Mord.«
»Und Sie glauben, Ihr Superdieb lädt hier das gestohlene Kupfer ab?«, folgert Win.
»Irgendwo hier in der Gegend, ja. Dieses hübsche Unternehmen ist wohl nur eines von vielen, die er anfährt.«
Win beobachtet Raggedy Ann und sagt: »Sie ist also ein Spitzel.«
»Jetzt haben Sie’s«, sagt Stump.
Raggedy Ann schiebt ihren Einkaufswagen, scheint sich pudelwohl zu fühlen, so als sei sie in der gefährlichen Welt der Schrottplätze Chelseas zu Hause.
»Wieso glauben Sie, dass der Typ die großen Sachen macht?«, fragt Win.
»Weil fast alle großen Coups was gemeinsam haben. Ich glaube, der Kerl macht Fotos. Wir haben Verpackungen von Einwegkameras sichergestellt, immer dieselbe Marke. Eine Solo H20. Wasserdicht mit Blitz, kostet ungefähr sechzehn Mäuse - wenn man sie denn irgendwo findet. Im Internet kriegt man sie für sechs oder sieben. Der Täter lässt sie für jeden sichtbar am Tatort liegen.«
Das viktorianische Haus in der Brattie Street. Der Vandalismus dort, die fehlenden Kupferrohre und -regenrinnen, die herausgerissenen Leitungen und die Solo H20 in der Küche. Das Haus, in dem Win Beweisstücke fand, die dort vorsätzlich deponiert wurden, wie er befürchtet. Beweismittel, die eine Spur zu ihm legen sollen. Fast hätte Win Stump von der gestohlenen Sporttasche erzählt, doch dann hält er sich zurück. Woher soll er wissen, wer hier was im Schilde führt? Er ist in einem Spinnennetz gefangen, und die Spinne in der Mitte ist Lamont.
»Haben Sie irgendwelche Fingerabdrücke auf der Kameraverpackung gefunden?«, fragt er.
»Nein. Die üblichen Chemikalien funktionierten nicht auf der Pappe, und mit Sekundenkleber konnte ich leider keine Abdrücke auf dem Plastik sichtbar machen. Aber das heißt ja nicht, dass wirklich nichts drauf ist. Vielleicht haben die Labore mehr Glück, die haben nämlich mit Sicherheit bessere Instrumente als wir. Wenn die sich denn mal damit abgeben.«
Fast hätte Win gefragt, ob Stump schon mal von einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung namens FOIL gehört habe, doch dann traut er sich nicht. Lamont war über eine Stunde in dem verlassenen viktorianischen Haus. Wer war bei ihr? Was machte sie da?
»Darf ich mal was fragen?«, sagt Win. »Warum sollte ein Kupferdieb am Tatort Fotos machen?«
»Das Erste, was mir einfällt«, erwidert Stump, »es törnt ihn an.«
»So wie Ihr Bankräuber, den es antörnt, jedes Mal den gleichen Zettel zu hinterlassen? Sich zur Schau zu stellen und alle wissen zu lassen, dass es immer wieder dieselbe Person ist, dass er keinen Fingerabdruck, nicht mal einen Teilabdruck hinterlässt, obwohl man auf der Überwachungskamera sehen kann, dass er keine Handschuhe trägt?«
»Wollen Sie damit sagen, dass es ein und derselbe ist? Der Bankräuber und der Kupferdieb?«, fragt Stump skeptisch.
»Keine Ahnung. Aber Täter, die mit ihrem Verbrechen prahlen und die Polizei verhöhnen, sind nicht gerade der Durchschnitt. Zwei Verbrechensserien zur selben Zeit in derselben Gegend, die beide anscheinend auch noch denselben Modus Operandi aufweisen, das ist
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