Undercover ins Glück
er sich herunterbeugen, um sie zu umarmen. Das und eine weitere kurze Umarmung amEnde des Besuchs war der einzige gestattete Körperkontakt.
»Ich finde, dieses Orange steht dir«, neckte Jordan.
Er versetzte ihr einen sanften Knuff aufs Kinn. »Ich hab dich auch vermisst, Schwesterherz.«
Als sie am Tisch Platz nahmen, sah Jordan, wie einige der weiblichen Besucher Kyle nicht gerade unauffällig musterten. Schon in der fünften Klasse hatten ihre Freundinnen ihr Zettel zugesteckt, die sie ihrem Bruder nach der Schule geben sollte. Seitdem war es nicht besser geworden. Sie persönlich fand die ganze Sache ziemlich seltsam. Schließlich ging es hier um Kyle .
»Ist es da draußen so schlimm, wie man hört?«, fragte er. »Durch mein fünfzehn Zentimeter breites Fenster sieht es so aus, als ob da draußen ein ganz schöner Schneesturm getobt hätte.«
»Ich habe heute morgen fast eine Stunde gebraucht, um den Bürgersteig freizuschaufeln«, antwortete Jordan.
Kyle strich sich sein dunkelblondes Haar aus dem Gesicht. »Siehst du? Das ist einer der Vorteile, wenn man im Gefängnis sitzt. Man muss keinen Schnee schippen.«
Ihr Bruder hatte gleich am Anfang die Regeln für ihre Besuche festgelegt. Gefängniswitze wurden erwartet und erwünscht, Mitleid hingegen nicht. Was beiden entgegenkam, da ihre Familie noch nie besonders viel mit Rührseligkeit anfangen konnte.
»Du lebst in einer Dachgeschosswohnung und hast seit Jahren keinen Schnee geschaufelt«, erwiderte Jordan.
»Eine bewusste Wahl, die sich aus dem Trauma meiner Jugend ergeben hat«, sagte Kyle. »Weißt du noch, wie Dad mich jedes Mal, wenn Schnee gefallen war, den ganzen Block freischaufeln ließ? Ich war acht, als ihm das einfiel – kaum größer als die Schaufel.«
»Und ich durfte drinnen bleiben und mit Mom warmen Kakao trinken.« Jordan schmetterte den Vorwurf ab, den sie kommen sah. »Hey, es war gut für deine Charakterbildung.« Sie sah sich in ihrer gitterbewehrten Umgebung um. »Vielleicht hätte dich Dad den nächsten Block gleich mitfegen lassen sollen.«
»Wie süß.«
»Dachte ich mir.«
Aus einer anderen Ecke des Raumes rief ein Häftling: »Hey, Sawyer! Sawyer! Wann stellst du mich deiner Schwester vor?«
Kyle wirkte verärgert, ignorierte die Stimme jedoch.
»Yo, Sawyer!« Schnell wurde der Häftling von einem bewaffneten Wärter zur Ordnung gerufen.
Jordan versuchte erst gar nicht, ihr Grinsen zu unterdrücken. »Ich glaube, da will jemand deine Aufmerksamkeit erlangen.«
»Ich reagiere nicht auf diesen Namen«, knurrte Kyle.
»Es könnte vielleicht helfen, wenn du dir die Haare ein wenig schneiden lassen würdest«, schlug sie mit gespieltem Mitleid vor.
»Scheiß auf Josh Holloway«, erwiderte er frustriert und recht laut. »Ich trage meine Haare jetzt schon seit Jahren so.«
»Du wirst ein wenig laut, Sawyer«, warnte ihn ein Wärter, der an ihrem Tisch vorbeiging.
Jordan sah amüsiert zu, wie ihr Bruder auf kleiner Flamme kochte. »Aber bei Sawyer funktioniert der Haarschnitt, weil er auf einer einsamen Insel abgestürzt ist. Auch wenn ich davon überzeugt bin, dass die Anderen in ihrem Camp eine Art Friseursalon haben müssen. Ich meine, sie führen komplizierte Operationen durch, da kann man ja wohl annehmen, dass sie irgendwo eine Schere für einen anständigen Haarschnitt haben sollten … «
»Wenn du nicht sofort damit aufhörst, schwöre ich dir, dass ich dich von meiner Besucherliste streichen lasse.«
Sie lachte über die Unwahrscheinlichkeit seiner Drohung. »Du klebst seit unserer Geburt an mir wie Kaugummi unter meinem Schuh. Was würde dich ohne meinen bezaubernden Witz einmal die Woche aufheitern?«
Sie blickte auf, als ein Häftling, der Mitte dreißig zu sein schien, an ihrem Tisch stehen blieb. Sobald er sprach, erkannte sie, dass es sich um den Mann handelte, der quer durch den Raum zu ihnen herübergerufen hatte.
»Du bist also die Schwester.« Er musterte sie und lächelte. Dabei schaffte er es, trotz der schwarzen Schlangentätowierung, die sich um seinen rechten Unterarm wand, harmlos auszusehen. »Stell mich ihr vor, Sawyer – ich will es anständig machen.«
Ein Wärter rief: »Ich sage es Ihnen nicht noch einmal, Puchalski. Reden Sie nicht mit den anderen Besuchern.« Mit einem bedauernden Blick über seine Schulter marschierte der Häftling davon.
Jordan wandte sich wieder Kyle zu. »Ich nehme an, dass Dad am Montag hier war?« Wenn nichts Dringendes dazwischenkam, war ihr Vater ein
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