Undercover
fremdartig aus der dunklen Umgebung hervor. Als auch nach dem vierten Mal Läuten niemand öffnete, drehte Tamara den Türknauf. Die Tür war nicht verschlossen. Sie zogen die Waffen und traten in das finstere Haus.
Ohne das Licht anzuschalten, tasteten sie sich durch den Flur in den kleinen Warteraum. Blaue Lichtschimmer fielen durch die Ritzen in der Jalousie herein. Shane musste an Warteräume billiger Autovermietungen denken. Er ging weiter zur Werkstatttür, verfluchte den Umstand, zu hinken. Die Schmerzen in der Schulter und i m Bein waren höllisch.
„Die Werkstatt ist da hinter der Tür“, flüsterte Tamara.
Shane biss die Zähne zusammen und zog die Tür auf. Er tastete nach einem Schalter. Flackernd sprangen die Neonröhren an. Das weiße Licht entzog allen Gegenständen die Farbe und reflektierte auf der gläsernen Skulptur, die in der Mitte des Raums stand und seltsam fremdartig wirkte.
In Bruchteilen einer Sekunde bemerkte Shane alles andere: Drei Schritte vor ihm, links von der Skulptur , lag ein Körper.
„ Das ist Ray Morrison !“, rief Tamara . Shane erkannte den Mann als denjenigen auf dem Foto der Broschüre – und als Tr evor Harry Pierce. Er trug ein orangefarbenes T-Shirt mit der Aufschrift Fuck yo u . Seine aufgerissenen Augen starrten ins Leere. Rechts, unter seinem Kopf breitete sich eine Blutlache aus .
„Shane! Er ist tot!“
War er jetzt am Ziel? Ein seltsames Gefü hl von Enttäuschung überfiel ihn . Jemand war ihm zuvor gekommen. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde und kraftlos.
Der Regen trommelte ohrenbetäu bend aufs Dach. Draußen sprang ein Motor an. Die graue Metalltür an der gegenüberliegenden Seite des Raums stand auf.
„Shane, der Geruch!“ Jetzt roch er es auch.
Ammoniak. – Im selben Augenblick sah er an der Metalltür eine Stichflamme emporschießen. Mit einem Satz war er bei Tamara, zerrte sie durch den düsteren Wart e raum hinaus ins Freie, stürzte weiter, einfach weiter in die dunkle, regnerische Nacht - und warf sich mit ihr in dem Moment auf den Boden als das Gebäude explodierte. Grelle Flammen schossen in den schwarzen Himmel. Sie mussten weg! Er riss Tamara hoch aus dem Schlamm, zog sie weiter, während hinter ihnen Explosionen zündeten und Splitter durch die Luft flogen. Sie rannten um ihr Leben. Er spürte nichts mehr, sein Körper funktionierte irgendwie, er lief und lief und lief. Erst sicher hundert Meter weiter, hinter einem Felsen an der Straße, versagten seine Beine. Er fiel über einen Felsbrocken.
„Shane!“ Tamara duckte sich neben ihn. Ihr Wagen wurde von den Flammen ergriffen, leuchtete, glühte und explodierte. Sie kauerten sich enger hinter den Felsen.
„ Das war verdammt knapp !“, schrie Tamara gegen das Krachen und Klirren an. Sie drängte sich an ihn, und er spürte, dass sie zitterte. Er hielt sie fest. Ray Morrisons Haus und Werkstatt wurden unaufhaltsam von den Flammen verschlungen.
Glücklicherweise trieb der Wind die giftigen Dämp fe der Chemikalien in die entgegengesetzte Richtung. Hätte es in den vergangenen Tagen nicht so häufig geregnet, wäre ein Buschfeuer ausgebrochen. Doch Gras und Büsche waren so feucht, dass sie nur schwer in Brand gerieten. Auch der Regen, der nicht nachließ, verhinderte ein weiteres Ausbreiten des Feuers. Tamara verständigte per Handy die Kollegen.
Über ihr Gesicht lief der Regen.
Aus dem Tal drangen Sirenen der Feuerwehr oder Polizei. Vor ihnen loderten die Flammen in den schwarzen Himmel. Jetzt spürte Shane wieder die Schmerzen in seiner verletzten Schulter und im Oberschenkel. Er sank ins nasse Gras. Wie kalt es aufeinmal war. Die Kleider klebten auf der Haut, sein Haar war klatschnass, und unablässig fiel der Regen. Tamara hielt sich mit den Armen umschlungen und starrte hinüber in das brennende Inferno. Beißender Geruch von Verbranntem und Chemikalien hing in der Luft.
„Wir sind zu spät gekommen“, sagte sie.
Wie oft hatte er sich schon diesen Vorwurf gemacht.
„Wir konnten es nicht wissen, Tamara.“
Sie sah weiter in die Flammen. Aus ihrem Haar troff das Wasser, und ihre durchnässten Kleider waren schlammverschmiert. Er musste an Jack und an seine Kollegen denken, und dann stellte er sich vor, wie es gewesen wäre, wenn Tamara eben ums Leben gekommen wäre, und ob man zweimal die Schuld des Überlebens tragen könnte, und dann fielen ihm Ann und Klein-Jack ein – und dann, dann riss er sich zusammen und versuchte, sich die letzten Sekunden vor
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