Undercover
Shane zum gegenüberstehenden Bürostuhl humpelte und sich langsam setzte. Tom blickte ihn ratlos und befangen an. Er sah grau und abgemagert aus, was nicht allein von seinen Nachtschichten kam, denn daran war er gewöhnt.
„Shane, ich weiß gar nicht... Es ist so unfassbar. Ich mach’ mir solche Vorwürfe! Wir hä tten euch doch mitnehmen können! Jacks Wohnung lag sogar auf unserem Weg!“ Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte immer wieder den Kopf. Sein sonst so perfekt gebügelter Hemdkragen war zerknittert.
„Ich war es, der die großartige Idee hatte, zu Fuß zu gehen, Tom. Ich habe es gesagt. Wenn einer Schuld hat, dann ich.“
Tom schüttelte noch immer den Kopf.
„Shane, hör’ damit auf. “ Er wischte sich über die Augen . „Ich muss dauernd an Ann denken .“
Shane fiel ein, dass er sie heute noch nicht angerufen und nach Jack gefragt hatte. Die Fahrt an den Tatort hatte ihn so beschäftigt. Doch Tom sagte:
„Ich habe vor einer halben Stunde mit ihr telefoniert. Dem Kleinen geht es heute nicht so gut.“
Welches Schicksal will Gott oder wer auc h immer dafür verantwortlich ist, Ann noch aufbürden? “, dachte Shane zornig und fühlte gleich darauf eine niederschmetternde Ohnmacht.
Sie schwiegen eine Weile, jeder in seine persönlichen Erinnerungen an Jack vertieft.
„Die Fahndung läuft auf Hochtouren“, sagte Tom schließlich. „Die ganze Meute macht Jagd auf den Mörder. Auf einen Wichser, der Harry heißt !“ Er ging zur Kaffeemaschine. „ Willst d u auch einen?“
Shane schüttelte den Kopf. Kaffee würde ihn jetzt völlig umhauen. Tom setzte sich wieder an den Schreibtisch und schlürfte einen Schluck aus der Tasse.
„Tom“, fing Shane an, „i ch hätte gern alles gelesen, was in diesem Fall bisher unternommen wurde.“
„Du meinst alle Akten?“
„Ja.“
„Okay, du hast ja Zeit.“ Tom stand auf und legte ihm zwei Ordner auf den Tisch. „Mick Lanski muss ja nichts davon erfahren, was?“
Shane hielt inne. „Was soll das heißen?“
Die Frage war Tom sichtlich unangenehm.
„Ich meine...“
„Was? Hat er dir etwa verboten, mir Informationen zu geben?“
„Nun, ich meine“, Tom zögerte, unsicher, was er sagen sollte , „he, Mick hat, ich meine, Mick hat gar nicht damit gerechnet, dass du hier aufkreuzt, er hat nur allgemein gesagt, dass...“ Er stockte.
„Das was?“
„Na ja, dass du auch Bestandteil des Falles bist.“ Tom machte einen unglücklichen Eindruck. „Ich weiß, das ist totaler Bullshit, aber du kennst Lanski, seinen Ton.“
Shane zählte im Kopf bis fünf . Verdächtigte Mick ihn denn tatsächlich, nur weil er überlebt hatte?
„Hör’ zu“, sagte Tom und machte eine beschwichtigende Handbewegung, „niemand mag Mick besonders . Das weiß er und diesen Frust mus s er rauslassen. Das ist alles. Und deshalb ist er gegen dich.“
Auch we nn Tom sicher Recht hatte, war Shane doch wütend. Er atmete tief aus und sagte:
„Danke, Tom. Stört’s dich, wenn ich hier bleibe?“
Tom entspannte sich augenblicklich.
„Du kannst so lang hier sitzen, wie du willst. Du weißt ja, wo der Kaffee ist.“
„Danke“, brummte Shane, zog den ersten Aktenordner heran und schlug ihn auf.
Mehr als sechzig Personen waren vernommen worden, alles Bewohner der Gordon Street. Er blätterte zu den Protokollen der Hausbewohner von Nr. 117. Er verglich die Namen mit denen aus seinem Notizbuch. Stafford, Anderson, das Anwaltsbüro Dr. P.M. Fleer , und das Büro Artconcept.
Mr. und Mrs. Stafford waren am Samstag zu Hause gewesen, die Schüsse überraschten sie im Schlaf, sie waren zum Fenster geeilt, und sahen die Toten dort liegen. Dann verständigten sie die Polizei. Ihnen war kein flüchtender Mann aufgefallen.
Trooper van Leer , ein alleinlebender fünfunddreißigjähriger Bankangestellter war nicht zu Hause. Er hatte das Wochenende bei seiner Freundin in einem anderen Brisbaner Stadtteil verbracht. Der Anwalt Dr. Fleer unterhielt in dem Haus nur sein Büro. Er war zu dieser Zeit mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar zum Essen gewesen – in einem Restaurant, das zwanzig Minuten Fahrtzeit vom Tatort entfernt lag. Auch das Büro der Firma Artconcept war am Samstagn acht nicht besetzt. Inhaber des Büros, das sich mit Kunstvermittlung beschäftigte, war ein gewisser Tim Wilcox, Rechtsanwalt.
Keiner der anderen Anwohner in der Straße hatte etwas von der Schießerei gesehen , die nur Sekunden gedauert hatte. Und keiner hatte
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