Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
möglich, weil mein Handy meistens abgeschaltet sei. Also hat er vorgeschlagen, stattdessen Docherty anrufen zu wollen, und ich sollte mit Docherty telefonieren, um seine Nachricht zu erhalten. Das habe ich getan, aber Docherty hat sich nicht gemeldet. Darauf habe ich im Revier angerufen. Der Dispatcher hat gesagt, Docherty sei nicht erreichbar.«
»Was bedeutet das?«
»Dass er gerade verhaftet worden ist, denke ich.«
Damit änderte sich alles. Das war mir klar, noch bevor Lee dazu kam, es mir zu erklären. Sie übergab mir ihre zusammengefalteten Notizen. Ich griff danach, als übernähme ich bei einem Staffellauf den Stab. Ich sollte möglichst schnell weiterlaufen. Sie bog von der Bahn ab, schied aus dem Rennen aus. Sie sagte: »Das verstehen Sie, nicht wahr? Ich muss mich jetzt stellen. Er ist mein Partner. Ich darf ihn in diesem Wahnsinn nicht allein lassen.«
Ich sagte: »Sie haben angenommen, er würde Sie sofort im Stich lassen.«
»Aber er hat’s nicht getan. Und ich habe ohnehin eigene Grundsätze.«
»Damit erreichen Sie nichts.«
»Vielleicht nicht. Aber ich lasse meinen Partner nicht hän-
gen.«
»Sie gehen bloß freiwillig vom Platz. Aus einer Zelle heraus können Sie niemandem helfen. Draußen ist immer besser als drinnen.«
»Für Sie ist das anders. Sie können morgen weiterziehen. Ich kann das nicht. Ich lebe hier.«
»Was ist mit Sansom? Ich muss wissen, wann er wohin kommen will.«
»Diese Informationen habe ich nicht. Und vor Sansom sollten Sie sich ohnehin in Acht nehmen. Am Telefon hat er irgendwie komisch geklungen. Ich wusste nicht, ob er echt wütend oder echt besorgt war. Schwer zu sagen, auf welche Seite er sich schlagen wird, wenn er endlich doch nach New York kommt.«
Dann gab sie mir Leonids erstes Handy und das Notfall-Ladegerät. Sie legte mir eine Hand auf den Arm und drückte ihn kurz. Ein Universalersatz für eine Umarmung und ein gemurmeltes Alles Gute! Und gleich darauf zerbrach unser zeitweiliger Dreierbund ganz. Mark war auf den Beinen, noch bevor Lee aufzustehen begann. Er sagte: »Das bin ich Peter schuldig. Okay, vielleicht sperren sie mich wieder ein, aber dann fahnden sie wenigstens nach ihm.«
»Wir könnten ihn suchen«, sagte ich.
»Wir haben keine Ressourcen.«
Ich sah beide an und fragte: »Sind Sie sich Ihrer Sache wirklich sicher?«
Das waren sie. Sie verließen den Park, blieben auf dem Gehsteig der Fifth Avenue stehen und streckten auf der Suche nach einem Streifenwagen die Köpfe vor, wie es Leute tun, die Ausschau nach einem Taxi halten. Ich blieb noch eine Minute allein sitzen, dann stand ich auf und ging in Gegenrichtung davon.
Nächster Halt: irgendwo östlich der Fifth Avenue und südlich der 59th Street.
59
Der Madison Square Park liegt am Südende der Madison Avenue, wo sie an der 23rd Street beginnt. Die schnurgerade Madison Avenue erstreckt sich über hundertfünfzehn Blocks bis zur Madison Avenue Bridge, die in die Bronx hinüberführt. So kann man zum Yankee-Stadion fahren, obwohl andere Routen besser sind. Ich hatte vor, ungefähr ein Drittel ihrer Länge bis zur 59th Street abzusuchen – etwas nordwestlich von der Ecke Third Avenue und 56th Street, an der Lila Hoth sich laut eigener Aussage nicht befand.
Dort konnte ich ebenso gut anfangen wie anderswo.
Ich nahm einen Bus, der ein langsames, schwerfälliges Vehikel war, in das ein verzweifelter Gejagter intuitiv nie gestiegen wäre, was es zu einer idealen Tarnung für mich machte. Der Verkehr war dicht, und wir kamen an vielen Cops zu Fuß und in Streifenwagen vorbei. Ich sah durchs Fenster zu ihnen hinaus. Kein Einziger erwiderte meinen Blick. Ein Mann in einem Bus ist nahezu unsichtbar.
Ich hörte auf, unsichtbar zu sein, als ich in der 59th Street ausstieg. Ein Geschäft neben dem anderen, daher massenhaft Touristen, deshalb an jeder Straßenecke paarweise Polizisten. Ich folgte einer Querstraße zur Fifth Avenue hinüber, wo am Rand des Central Parks Straßenhändler ihre Ware feilboten, und kaufte mir ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck New York City, eine gefälschte Ray-Ban-Sonnenbrille und eine schwarze Baseballkappe mit einem roten Apfel über dem Schirm. Ich wechselte mein Hemd auf der Toilette einer Hotelhalle und kehrte leicht verändert auf die Madison Avenue zurück. Seit irgendein Cop mit seinem Wachleiter gesprochen hatte, waren vier Stunden vergangen. Und in vier Stunden vergessen die Leute viel. Ich rechnete mir aus, dass groß und Khakihemd die
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