Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
will. Sie will es stehlen, um es unterdrücken zu können.«
»Wozu das?«
»Für Sie mag es peinlich sein – aber es zeigt etwas, das für Osama bin Laden noch viel schlimmer ist.«
69
Wie erwartet schwiegen Sansom und Springfield nachdenklich. Sie erinnerten sich an einen Tag vor fünfundzwanzig Jahren, an ein halbdunkles Zelt über dem Korengaltal. Dabei spannten sie die Muskeln an und richteten sich leicht auf, als nähmen sie unwillkürlich ihre straffe Haltung von damals ein. Einer links, der andere rechts, ihr Gastgeber in der Mitte. Die Kamera auf sie gerichtet, der Bildausschnitt gewählt, das Objektiv scharf eingestellt. Der Aufsteckblitz eingeschaltet, das Summen des Kondensators, dann die Entladung, die das Zeltinnere in grelles Licht tauchte.
Was genau hatte die Kamera gesehen?
Sansom sagte: »Ich kann mich an nichts Besonderes erinnern.«
»Vielleicht sind wir ihm peinlich«, meinte Springfield. »Das wäre die einfachste Erklärung. Vielleicht gilt eine Begegnung mit Amerikanern heutzutage als schlechtes Karma.«
»Nein«, entgegnete ich. »Das Foto hat sogar PR -Wert. Es lässt bin Laden mächtig und triumphierend aussehen, während wir wie gutgläubige Trottel wirken. Nein, es muss etwas anderes gewesen sein.«
»Dort drinnen ist’s zugegangen wie im Zoo. Chaos und totales Durcheinander.«
»Es muss etwas sehr Anstößiges gewesen sein. Kleine Jungen, kleine Mädchen, Tiere.«
Sansom sagte: »Ich weiß nicht, was sie als anstößig bezeichnen würden. Dort drüben gelten völlig andere Regeln. Es könnte sogar etwas sein, das er gegessen hat.«
»Oder geraucht.«
»Oder getrunken.«
»Alkohol hat’s keinen gegeben«, sagte Springfield. »Daran erinnere ich mich gut.«
»Frauen?«, fragte ich.
»Auch keine Frauen.«
»Irgendetwas muss es gegeben haben. Waren noch andere Besucher da?«
»Nur Stammesangehörige.«
»Keine Ausländer?«
»Nur wir.«
»Es muss irgendwas gewesen sein, das ihn bloßstellt, schwach oder pervers erscheinen lässt. War er gesund?«
»Er hat gesund ausgesehen.«
»Was sonst könnte es gewesen sein?«
»Ich weiß es nicht. Das ist alles schon so lange her. Wir waren müde. Wir waren hundertfünfzig Kilometer weit durch die Frontlinien marschiert.«
Sansom war verstummt. Damit hatte ich gerechnet. Zuletzt sagte er: »Das ist echt eine Scheißsache.«
Ich sagte: »Ja, ich weiß.«
»Ich muss eine wichtige Entscheidung treffen.«
»Auch das weiß ich.«
»Schadet dieses Foto ihm mehr als mir, muss ich es veröffentlichen.«
»Nein, wenn es ihm überhaupt schadet – auch wenn’s noch so wenig ist –, müssen Sie es veröffentlichen. Und dann müssen Sie die Konsequenzen tragen.«
»Wo ist es?«
Ich gab keine Antwort.
»Okay«, sagte er. »Ich halte Ihnen den Rücken frei. Aber ich weiß, was Sie wissen. Und Sie haben es rausgekriegt. Was bedeutet, dass ich es ebenfalls rausbekommen kann. Nur eben etwas langsamer. Weil man dazu kein Genie zu sein braucht. Was bedeutet, dass die Hoths es ebenfalls herauskriegen können. Langsamer als ich? Vielleicht nicht. Vielleicht holen sie sich gerade den USB -Stick.«
»Ja«, sagte ich. »Vielleicht tun sie das.«
»Und wenn sie das Foto unterdrücken wollen, wär’s vielleicht keine schlechte Idee, sie das einfach tun zu lassen.«
»Wenn sie es unterdrücken wollen, bedeutet das, dass es eine wirkungsvolle Waffe ist, die gegen sie eingesetzt werden könnte.«
Sansom sagte nichts.
Ich fragte: »Erinnern Sie sich an die Officer Candidate School. An die Eidesformel mit dem Passus ›gegen alle in- und ausländischen Feinde‹?«
»Im Kongress legen wir denselben Eid ab.«
»Sollten Sie also zulassen, dass die Hoths diese Aufnahme unterdrücken?«
Er schwieg sehr lange.
»Gehen Sie«, sagte er dann. »Erledigen Sie die Hoths, bevor ihnen das Foto in die Hände fällt.«
Ich ging nicht. Nicht gleich danach. Nicht sofort. Ich hatte Dinge zu überlegen und Pläne zu machen. Und Mängel zu beseitigen. Ich war nicht ausgerüstet. Ich trug Gartenclogs aus Gummi und eine blaue Hose. Ich war unbewaffnet. Nichts davon war gut. Ich wollte in tiefster Nacht und zweckmäßig schwarz gekleidet in Aktion treten. Mit richtigen Schuhen. Und mit Waffen. Je mehr, desto besser.
Die Ausrüstung war leicht zu beschaffen.
Mit den Waffen würde es schwieriger werden. New York City ist nicht die beste Stadt der Welt, wenn es darum geht, sich rasch ein privates Arsenal zuzulegen. In den Außenbezirken gab es vermutlich
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