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Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)

Titel: Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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dem Wagen. Ich hatte beide Ellbogen auf die Knie gestützt und starrte mein Spiegelbild im Fenster gegenüber an.
    Ich hakte die zwölf Punkte ab, an denen man Selbstmordattentäter erkennen konnte.
    Unpassende Kleidung, das stimmte. Der Reißverschluss der Windjacke war bis zum Hals zugezogen, und sie wirkte viel zu warm und viel zu groß für mich. Unter ihr trug ich die MP 5 so an ihrem Nylongurt, dass sie mit hohem Griff und gesenkter Mündung diagonal vor meiner Brust hing und sich nicht im Geringsten abzeichnete.
    Roboterhafter Gang: bei einem in einem öffentlichen Verkehrsmittel sitzenden Verdächtigen nicht sofort zu verifizieren.
    Die Punkte drei bis sechs: Reizbarkeit, Schwitzen, Tics und Nervosität. Ich schwitzte, das war nicht zu übersehen, vielleicht ein bisschen mehr, als Temperatur und Jacke rechtfertigten. Ich fühlte mich auch reizbar, vielleicht etwas mehr als sonst. Aber auch als ich mein Spiegelbild genau beobachtete, konnte ich keinen Tic erkennen. Mein Blick flackerte nicht, mein Gesichtsausdruck war beherrscht. Ich erkannte auch keine Nervosität. Aber mein Verhalten war nur eine gute Tarnung. Innerlich war ich natürlich ein wenig nervös. Das stand fest.
    Punkt sieben: Atmung. Ich hechelte nicht. Aber ich hätte zugeben müssen, dass ich etwas tiefer und gleichmäßiger atmete als gewöhnlich. Die meiste Zeit nimmt man die eigene Atmung überhaupt nicht wahr. Sie geht einfach automatisch vor sich. Als tief im Gehirn verankerter unwillkürlicher Reflex. Aber jetzt konnte ich ihren unaufhörlichen Ein-und-aus-Rhythmus spüren. Ein, aus, ein, aus. Wie eine Maschine. Ich konnte ihr Tempo nicht verlangsamen. Die Luft kam mir sehr sauerstoffarm vor. Ich atmete sie ein und aus wie ein inertes Gas. Wie Argon oder Xenon. Sie tat mir überhaupt nicht gut.
    Punkt acht: starr nach vorn gerichteter Blick. Das stimmte wieder, aber ich entschuldigte ihn damit, dass er nur auftrat, während ich die übrigen Punkte ansprach. Oder dass er ein Zeichen für äußerste Konzentration war. Normalerweise hätte ich nicht vor mich hingestarrt, sondern mich wie jeder andere ab und zu umgesehen.
    Punkt neun: gemurmelte Gebete. Von mir waren keine zu hören. Ich saß still und stumm da. Mein Mund war geschlossen, die Lippen bewegten sich nicht. Tatsächlich war er so fest geschlossen, dass meine Backenzähne schmerzten und die Kiefermuskeln deutlich hervortraten.
    Punkt zehn: eine große Tasche. Nicht vorhanden.
    Punkt elf: Hände in der Tasche. Nicht zutreffend.
    Punkt zwölf: frisch rasiert. Ebenfalls nicht zutreffend. Ich hatte mich seit Tagen nicht mehr rasiert.
    Also sechs von zwölf Punkten. Ich konnte ein Selbstmordattentäter sein – oder auch nicht.
    Und ich konnte ein Selbstmörder sein. Oder auch nicht. Ich starrte mein Spiegelbild an und dachte daran, wie ich Susan Mark auf den ersten Blick eingeschätzt hatte: eine Frau, die zum Ende ihres Lebens unterwegs ist – so zuverlässig und sicher, wie der Zug zur Endstation dieser Strecke unterwegs ist.
    Ich nahm die Ellbogen von den Knien und lehnte mich zurück. Dann betrachtete ich meine Mitreisenden. Zwei Männer, eine Frau. Nichts Auffälliges an ihnen. Der Zug ratterte mit allen seinen Geräuschen nach Süden. Das Brausen des Fahrtwinds, das Klacken der Schienenstöße unter den Rädern, das Scharren der Stromabnehmer, das Heulen der Motoren und das Quietschen der Radkränze, als die Wagen nacheinander durch die lang gezogenen Kurven schwankten. Ich betrachtete mich nochmals in dem dunklen Fenster gegenüber und lächelte.
    Ich gegen sie.
    Nicht zum ersten Mal.
    Und nicht zum letzten Mal.
    Ich stieg in der 34th Street aus und blieb zunächst in der Station. Saß einfach in der Hitze auf einer Holzbank und ließ mir meine Theorien nochmals durch den Kopf gehen. Vor allem bedachte ich Lila Hoths Geschichtslektion aus den Tagen des britischen Empires: Wer eine Offensive plant, muss immer auch schon den unvermeidlichen Rückzug planen. Hatten ihre Vorgesetzten in der Heimat diesen ausgezeichneten Rat beherzigt? Das bezweifelte ich aus zwei Gründen. Erstens: Fanatismus. Ideologische Organisationen können sich keine vernünftigen Überlegungen leisten. Fängt man an, rational zu denken, zerfällt das Ganze. Und ideologische Organisationen treiben ihre Fußsoldaten gern in aussichtslose Situationen. Um Beharrlichkeit zu fördern. Genau wie Sprengstoffgürtel hinten zugenäht werden, statt sie mit Haken oder einem Reißverschluss zu schließen.
    Zweitens:

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