Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
städtische Umgebung gestellt.
Ich zielte mit der MP 5. Schwarz und bedrohlich. Die Waffe war heiß. Sie stank nach Pulver, Öl und Rauch.
Ich befahl: »Legt die Hände auf die Tischplatte.«
Die beiden Frauen gehorchten. Vier Hände erschienen. Zwei braun und knotig, zwei blass und schmal. Wie Seesterne gespreizt, zwei grob und quadratisch, zwei länger und zarter.
Ich sagte: »Tretet zurück und stützt euch darauf.«
Sie gehorchten. Das machte sie weniger beweglich. Sicherer für mich.
Ich erwiderte: »Ihr seid nicht Mutter und Tochter.«
Lila sagte: »Nein, das sind wir nicht.«
»Wer seid ihr also?«
»Lehrerin und Schülerin.«
»Gut. Ich möchte keine Tochter vor den Augen ihrer Mutter erschießen. Oder eine Mutter vor ihrer Tochter.«
»Aber Sie würden eine Schülerin vor den Augen ihrer Lehrerin erschießen?«
»Vielleicht die Lehrerin zuerst.«
»Dann tun Sie’s doch.«
Ich blieb regungslos stehen.
Lila sagte: »Wenn Sie’s ernst meinen, müssen Sie’s jetzt tun.«
Ich beobachtete ihre Hände. Achtete auf Spannung oder Anstrengung oder sich bewegende Sehnen oder verstärkten Druck auf die Fingerspitzen. Auf Anzeichen dafür, dass sie ihren beengten Raum verlassen wollten.
Dafür gab es keine Anzeichen.
Das Handy in meiner Tasche vibrierte.
In dem stillen Raum machte es ein kleines Geräusch. Ein Surren, ein Summen, ein Schleifen. Ein rhythmisches kleines Pulsieren. Das Gerät hüpfte und summte an meinem Oberschenkel.
Ich starrte Lilas Hände an. Flach. Still. Leer. Kein Telefon.
Sie sagte: »Vielleicht sollten Sie doch rangehen.«
Ich nahm den Griff der MP 5 in die linke Hand und zog das Mobiltelefon aus der Tasche. Vertraulicher Anruf. Ich klappte es auf, hob es ans Ohr.
Theresa Lee sagte: »Reacher?«
Ich fragte: »Was?«
»Wo, zum Teufel, hast du gesteckt? Ich versuche seit zwanzig Minuten, dich zu erreichen.«
»Ich hatte zu tun.«
»Wo bist du?«
»Woher hast du diese Nummer?«
»Du hast mich auf dem Handy angerufen, weißt du das nicht mehr? Deine Nummer steht in der Anruferliste.«
»Wieso wird deine Nummer nicht angezeigt?«
»Weil ich aus dem Dienst anrufe. Wo um alles in der Welt steckst du?«
»Was ist los?«
»Also pass auf. Du hast falsche Informationen. Die Heimatschutzbehörde hat sich noch mal gemeldet. Einer der Tadschiken hat in Istanbul seine Maschine verpasst. Er ist stattdessen über London und Washington eingereist. Also sind es nicht neunzehn, sondern zwanzig Männer.«
Lila Hoth bewegte sich, und der zwanzigste Mann trat aus dem Bad.
82
Wissenschaftler messen die Zeit bis zur Pikosekunde. Bis zum billionsten Teil einer Sekunde. Sie rechnen damit, dass in dieser kurzen Zeitspanne alles Mögliche passieren kann. Universen können entstehen, Elementarteilchen beschleunigt, Atome gespalten werden. Was mir in den ersten paar Pikosekunden zustieß, war eine ganze Ansammlung verschiedener Dinge. Als Erstes ließ ich das Handy sinken – weiterhin aufgeklappt, weiter eingeschaltet. Bis es auf Höhe meiner Schulter angelangt war, gellten ganze Sätze aus Gesprächen mit Lila in meinen Ohren. Erst vor Kurzem hatte ich von der Madison Avenue aus mit ihr telefoniert. Ich hatte gesagt: Sie haben nur noch sechs Kerle . Sie hatte etwas antworten wollen, dann jedoch geschwiegen. Sie hatte sagen wollen: Aber ich habe sieben. Wie bei anderer Gelegenheit, als sie beinahe gesagt hätte: Aber das ist nicht in meiner Nähe! Ein nur gehauchter Vokal. Diesmal hatte sie rechtzeitig den Mund gehalten. Sie hatte dazugelernt.
Ausnahmsweise hatte ich zu viel geredet.
Und zu wenig zugehört.
Als das Handy in Hüfthöhe angelangt war, konzentrierte ich mich auf den zwanzigsten Mann. Er sah genau wie seine vier oder fünf Vorgänger aus. Er hätte ihr Bruder oder Cousin sein können, was er vermutlich auch war. Jedenfalls eine vertraute Erscheinung. Klein, sehnig, schwarzhaarig, nicht mehr ganz jung. Seine Körpersprache war wachsam und aggressiv. Er trug eine schwarze Jogginghose, dazu ein dunkles Sweatshirt. Er war Rechtshänder. In der rechten Hand hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer, die er in weitem Bogen hochriss. Er wollte damit auf mich zielen. Sein Zeigefinger nahm schon den Druckpunkt am Abzug. Er wollte mich in die Brust schießen.
Ich hielt die MP 5 SD in der linken Hand. Ihr Magazin war leer. Die letzte Patrone steckte bereits im Lauf. Sie musste treffen. Ich wollte die Hand wechseln, wollte nicht auf meiner schwächeren Seite, mit meinem
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