Underground: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
nicht. Sie würden mich überraschen wollen oder darauf setzen, dass ich mich langweilte.
Sie entschieden sich für sofort.
Das Handy in meiner Tasche vibrierte.
Ich trat in das linke Zimmer und kontrollierte die Aussicht. Aus meiner Perspektive stieg die Eisentreppe von rechts nach links an. Ich würde den Kopf des Mannes sehen, wenn er von unten heraufkam. Was gut war. Doch mein Schusswinkel war nicht gut. Die Neun-Millimeter-Para ist eine Munition für Handfeuerwaffen und gilt als geeignet für den Einsatz in Städten. Die Geschosse bleiben viel eher stecken, statt ihr Ziel wie Gewehrkugeln zu durchschlagen. Bei unterschallschnellen Para-Geschossen ist das noch wahrscheinlicher. Garantien gibt es jedoch keine. Und auf der anderen Straßenseite gab es unbeteiligte Nichtkombattanten. Schlafzimmerfenster, schlafende Kinder. Glatte Durchschüsse konnten sie erreichen, zufällige Abpraller auch. Und Querschläger oder Splitter, und glatte Fehlschüsse erst recht.
Lauter potenzielle Kollateralschäden.
Ich schlich durch den Raum und drückte mich an die Wand neben dem Schiebefenster. Spähte hinaus. Nichts zu sehen. Ich streckte einen Arm aus und entriegelte das Fenster. Versuchte es hochzuschieben. Das Fenster klemmte. Ich schaute erneut hinaus. Noch immer nichts. Ich trat vor die Scheibe, packte die Griffe und ruckte daran. Das Fenster bewegte sich, klemmte, bewegte sich wieder, schoss dann nach oben und schlug mit solcher Gewalt an, dass die Scheibe von oben bis unten zerbrach.
Ich drückte mich wieder an die Wand.
Horchte angestrengt.
Hörte den gedämpften Klang von Gummisohlen auf Eisen. Ein stetiger leiser Rhythmus. Er kam rasch herauf, ohne jedoch zu rennen. Ich ließ ihn kommen. Ich ließ ihn ganz heraufkommen. Ich ließ ihn Kopf und Schultern durchs Fenster strecken. Schwarzes Haar, dunkler Teint. Die Nummer fünfzehn auf Springfields Liste. Ich richtete mich darauf ein, parallel zur Fensterwand zu schießen. Er sah nach links. Er sah nach rechts. Er sah mich. Ich drückte ab. Ein kurzer Feuerstoß mit drei Schuss. Er bewegte den Kopf.
Ich schoss daneben. Der erste oder vielleicht der letzte Schuss riss ihm ein Ohr ab, aber er blieb am Leben und bei Bewusstsein, schoss wild zurück und verschwand wieder nach draußen. Ich hörte ihn gegen das Geländer des schmalen Laufstegs fallen.
Jetzt oder nie!
Ich nahm die Verfolgung auf. Er kroch mit dem Kopf voraus die Stufen hinunter. Schaffte es bis zum dritten Stock, wälzte sich auf den Rücken und hob seine Pistole, als sei sie bleischwer. Ich kam hinter ihm die Treppe herabgestürmt, beugte mich von der Fassade weg und traf ihn mit einem Feuerstoß mitten ins Gesicht. Seine Waffe flog sich überschlagend zwei Stockwerke tiefer und blieb drei Meter über dem Gehsteig hängen.
Ich atmete ein.
Ich atmete aus.
Sechs Männer erledigt. Sieben verhaftet. Vier wieder zu Hause. Zwei unter Bewachung im Krankenhaus.
Neunzehn von neunzehn.
Das Fenster im dritten Stock war hochgeschoben. Die Vorhänge waren aufgezogen. Ein Einzimmerapartment. Verwahrlost, aber nicht demoliert. Lila und Swetlana Hoth standen in der Kochnische nebeneinander.
Neunundzwanzig Schuss verbraucht.
Einer übrig.
Ich glaubte wieder Lilas Stimme zu hören: Man muss die letzte Kugel für sich selbst aufsparen, weil man nicht lebend gefangen werden will – besonders nicht von den Frauen.
Ich stieg über die Fensterbank und trat in den Raum.
81
Die Einzimmerwohnung hatte den gleichen Grundriss wie das demolierte Apartment im ersten Stock. Vorn das Wohnschlafzimmer, die Kochnische, das Bad und der begehbare Kleiderschrank an der Rückwand. Die Trennwände standen noch. Die Gipskartonplatten waren nicht heruntergerissen. Die beiden Deckenlampen brannten. An einer Wohnzimmerwand stand ein hochgeklapptes Schrankbett. Die restliche Einrichtung bestand aus zwei Holzstühlen. In der Kochnische gab es zwei Arbeitsflächen und einen Wandschrank. Ein winziger Bereich, in dem Lila und Swetlana Seite an Seite eingeklemmt standen. Swetlana links, Lila rechts. Swetlana trug ein braunes Hauskleid, Lila eine schwarze Cargohose und ein weißes T-Shirt. Das Hemd war aus Baumwolle, die Hose aus reißfestem Nylon. Ich vermutete, dass sie bei jeder Bewegung rascheln würde. Sie sah so schön wie immer aus. Langes dunkles Haar, strahlend blaue Augen, makelloser Teint. Ein fragendes kleines Lächeln auf den Lippen. Als hätte ein avantgardistischer Modefotograf sein bestes Model in eine verwahrloste
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