Underground
sehr groß gewesen sein. Nun hing ihre Haut in Falten über ihrem Skelett, und ihre zwei geflochtenen Zöpfe ähnelten weißen Schlangen, wie sie sich so neben ihr auf dem Boden einrollten. Im Grau war sie von den Flügeln riesiger Vögel umgeben, deren Federn golden schimmerten. Sie trug mehrere ausgebeulte, alte Pullover und rosa Socken. Ein kunstvoll geschnitzter Gehstock lag unter einem Kissen neben ihr. Grandma Ella blickte zu uns auf und musterte
jeden von uns eingehend. Dann streckte sie fordernd die Hand aus.
»Für mich?«
Fish wirkte fast verblüfft, als ob er vergessen hätte, dass sie sprechen konnte. Er stolperte einen Schritt nach vorn und reichte ihr die in Goldpapier eingewickelte Pralinenschachtel und die Tüte mit den Zigarren.
»Ja, Grandma. Wir haben dir Schokolade mitgebracht. Und Russell Willet schickt dir ein paar Zigarren.«
Grandma Ella kicherte spöttisch. »Ha! Er will sich wohl Liebkind bei mir machen.« Ihr scharfer Blick wanderte zu Quinton und mir. »Ihr zwei – geht in die Küche und holt Brot und Kaffee. Ohne Essen und Trinken kann man keine Geschichten erzählen.« Sie zeigte mit ihrer skelettartigen Hand, von der die Haut wie zerknitterter Stoff herabhing, auf eine Tür hinter sich.
Wortlos gingen Quinton und ich in die Küche und lie ßen Fish in Ella Grahams Netz zurück. Sie begann sogleich in Lushootseed zu sprechen – in der Sprache, die ich bereits so oft sowohl bei lebenden als auch bei toten Indianern gehört hatte. Es war die gleiche Sprache, die auch der Geist der jungen Prostituierten als Muttersprache gesprochen hatte.
Kaffee und frisch gebackenes Brot standen in der Küche. Wir stellten vier Becher und vier Teller auf ein Tablett. »Sie ist irgendwie … unheimlich«, flüsterte Quinton. »Auch wenn ich mir nicht sicher bin, warum.«
»Hier im Haus gibt es ziemlich viele unheimliche Dinge. Aber ich glaube nicht, dass sie böse ist. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt weiß, was sich alles um sie herum angesammelt hat. Aber sie ist wirklich ein wenig verstörend, das finde ich auch.«
»Verstörend – das ist das richtige Wort. Der arme Fish ist ja förmlich zusammengezuckt, als sie ihn angesprochen hat.«
»Uns wäre es wahrscheinlich genauso ergangen. Selbst wenn sie keine Hexe oder so etwas ist, übt sie doch eine ganz schöne Macht aus. Die Geister hier scheinen sie alle zu achten, und außerdem gibt es noch einige andere magische Wesen, die sich hier tummeln.«
»Hier drinnen?«, fragte Quinton ein wenig beunruhigt und sah sich um.
Für einen Moment überlegte ich mir, ob ich ihn anschwindeln sollte, um seine Nerven zu schonen. Doch ich entschied mich dagegen. »Hier drinnen sind nicht so viele, und im Wohnzimmer gibt es überhaupt keine.« Zugegebenermaßen entsprach das nicht ganz der Wahrheit. »Aber im Flur und draußen vor dem Haus gibt es unglaublich viele Geister und auch irgendwelche anderen Zauberwesen, die ich nicht kenne. Sie scheinen sich allerdings nicht für uns persönlich zu interessieren, aber sind doch ziemlich neugierig, weil wir Mrs. Graham besuchen. An ihr sind sie offenbar sehr interessiert.«
»Beeilt euch!« Die schrille Stimme der alten Frau drang bis zu uns in die Küche, ohne dass sie diese hätte erheben müssen.
Wir zuckten beide zusammen. Dann holte ich tief Luft und nahm das Tablett. »Im College habe ich mich immer vor dem Essensdienst gedrückt«, sagte ich. »Hoffentlich lasse ich jetzt das verdammte Ding nicht fallen!«
»Ich kann es nehmen«, bot Quinton an und streckte mir die Hände entgegen, in denen er bereits die Kaffeekanne und das Brot hielt.
»Ich habe irgendwie den Eindruck, dass sie von mir als
Frau erwartet, dass ich das mache. Du weißt schon – alte Schule und so.«
Quinton nickte. »Stimmt.«
Wir kehrten ins Wohnzimmer zurück und stellten das Tablett auf den Boden in die Nähe des Feuers. Grandma Ella schenkte uns ein zahnloses Grinsen. Es gab keinen anderen Platz in diesem Teil des Raums, wo wir es sonst hätten hinstellen können, und auch zum Sitzen boten sich nur die Fußkissen an. Also ließen wir uns darauf nieder. Fish saß bereits neben der alten Dame und spielte die offensichtlich erwartete Rolle als Übersetzer und Diener, während Quinton und ich ihr gegenüberhockten. Fish warf uns immer wieder nervöse Blicke zu.
»Hm«, gab die alte Frau von sich. Offenbar war sie bereits damit beschäftigt, an einem der mit Schokolade überzogenen Sahnebonbons zu lutschen, das sie
Weitere Kostenlose Bücher