Underground
streckte mir erneut ungeduldig die Feder entgegen.
Widerstrebend nahm ich sie entgegen und spürte, wie die Alte zitterte, als ich die Feder berührte. Auf den ersten Blick wirkte die Feder unbedeutend, aber ich sah, wie sich die Flügel, die sich um Ella Graham gelegt hatten, öffneten
und dann glitzernd wieder falteten. Sie erinnerten mich an irgendetwas.
»Sie erinnern mich an Grandpa Dan«, flüsterte ich, ohne es zu wollen.
Ella Graham schnaubte. »Dan! Ein Pferd, auf dem die Geister reiten. Er kann Sisiutl nicht aufhalten«, erklärte sie verächtlich und legte sich zurück. »Meinst du, ich kann die Stimmen unserer Vorfahren nicht hören, die mir erzählen, dass Sisiutl zum Land kommen wird, das dazwischenliegt? Unser Volk ist schwach und klein geworden, und Sisiutl ernährt sich von zu vielen. Wer außer dir sollte die Geister versammeln und ihn und seine Brut wieder wegschicken, Fasan? Geht jetzt. Verlasst mein Haus. Auch du, Reuben. Kommt erst zurück, wenn die Toten wieder schlafen.«
Ihre Stimme wurde schwächer, und auch ihre Augen wirkten erschöpft. »Bringt mir mehr Schokolade. Und richte dem Schlitzohr Russell aus, dass ich ihm vergebe, weil er mein Boot versenkt hat.« Sie legte ihre Wange auf das Kissen und seufzte laut. Dann schloss sie die Augen. Auch das Haus schien auf einmal zu seufzen. Es wirkte gedämpfter und düsterer als die Dunkelheit, die sich draußen allmählich über die Erde legte.
Wir sahen uns verwirrt an. Fish hielt seine Hand vor Ella Grahams Mund. Er wirkte für einen Moment verängstigt, doch dann atmete er erleichtert auf.
»Sie schläft. Wir sollten besser gehen.«
Quinton und ich nickten und erhoben uns. Wie benommen taumelte ich durch das wabernde Grau und die dichte Menge von Geistern, bis wir schließlich mein Auto erreichten. Keiner sagte ein Wort, ehe wir auf den Highway einbogen, der aus dem Reservat führte. Quinton starrte
wieder vor sich hin, während mir Fish immer wieder nervöse Blicke zuwarf.
Als wir uns auf dem Interstate-Highway befanden, sah ich ihn an. »Was ist los?«, fragte ich ein wenig irritiert. Ich verstand nicht, warum er so unruhig wirkte.
»Glauben Sie wirklich, dass Sisiutl diese Leute getötet hat?«
»Was denken Sie?«
»Ich weiß es nicht … Ich meine … Wow! Ein uraltes indianisches Monster … Hm … Und das soll Obdachlose am Pioneer Square fressen? Es ist irgendwie … Irgendwie …«
»Unvorstellbar?«
»Verrückt.«
»Das ist Ihr Monster, Fish. Ihre Kultur. Wenn Sie und Russell wirklich glauben, dass Grandma Ella Sie dafür verfluchen könnte, dass Sie ihr Boot versenkt haben, ist es dann wirklich so verrückt, auch an ein Monster zu glauben? Ist es nicht vielmehr sogar möglich, dass so etwas unter dem Pioneer Square lebt, wo die Dinge etwas anders sind als an anderen Orten?«
Er starrte vor sich hin. »Und Sie?«, meinte er nach einer Weile und kicherte plötzlich nervös, was bei einem Mann seiner Größe und Statur, der eher an einen Biker als an einen angehenden Arzt erinnerte, recht seltsam wirkte. »Sie können Tote sehen?«
Für einen Moment überlegte ich, ob ich ihm die Wahrheit zumuten konnte. Doch dann nickte ich, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ja, ich kann Tote sehen. Ich kann Wesen sehen, die zurückbleiben oder die noch etwas zu erledigen haben. Die meisten sind harmlos.«
»Aber nicht Sisiutl.«
»Wenn es überhaupt Sisiutl ist.«
»Sie scheinen ziemlich überzeugt zu sein.«
Ich zuckte mit den Achseln. »Das ist bisher die einzige Spur, die wir haben. Es passt zwar nicht alles zusammen, aber einiges schon.«
»Gehen wir einmal davon aus, dass es Sisiutl ist«, meinte Quinton von der Rückbank. »Einfach mal theoretisch. Eine sagenhafte, dreiköpfige Seeschlange, sie sich gern in ein Kanu verwandelt und Menschen frisst, lebt in einem Tümpel neben dem Haus einer Art von Götterriesin, die eine Treppe zu den Göttern besitzt.«
»Das klingt zugegebenermaßen total unwahrscheinlich«, erwiderte ich.
»Dir gefällt nur der Name«, erklärte Quinton grinsend.
»Es klingt einfach lustig.« Mir wurde auf einmal klar, dass mich der Name tatsächlich etwas störte. »Ein Monster, das Menschen frisst und ihre Gliedmaßen abnagt, Zombies im Untergrund zurücklässt und Löcher durch eine dicke Betonwand bricht, sollte irgendwie einen furchterregenderen Namen haben als Sisiutl. Findet ihr nicht?«
»Dann müssten aber auch Son of Sam und Baby Face Nelson nette Jungs und keine Serienmörder
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