Underground
Du solltest heute Nacht unbedingt in der Nähe eines Feuers schlafen, Grass. Aber bloß nicht unten im Ziegelbruch. Am besten schläfst du gar nicht mehr in dieser Gegend. Hast du mich verstanden?«
Tall Grass nickte mutlos. Seine Trauer und seine Wut hatten ihn ganz benommen gemacht. Wir gingen gemeinsam mit ihm zum Occidental Park und ließen ihn dort in der Obhut von Sandy zurück. Dann machten wir uns auf den Weg, um das Gitter zu finden, durch das man angeblich unter den Pioneer Square gelangen konnte.
»Wie ist er bloß auf die Idee gekommen?«, fragte ich Quinton. »Ich meine, dass jemand das Monster geschickt haben könnte?«
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht glaubt er, dass Jenny gejagt wurde.«
Ich runzelte die Stirn und dachte schweigend nach.
Wir entdeckten das Gitter, das locker über einem Loch in der Gasse zwischen dem Seattle Mystery Bookshop und dem hinteren Teil des Pioneer-Building lag. Ein Stahlrahmen und zwei Angeln zeigten, wo es früher einmal befestigt gewesen sein musste. Doch irgendjemand hatte es aus seinem Rahmen gerissen, und nun lag es nur noch lose
da. Im Grau war der Ort von einem kalten silbernen Nebel überzogen. Das Energienetz glühte neonrot und gelb. Keine angenehme Mischung.
Quinton schaute sich um, als ob er sich nicht sicher wäre, wo wir uns befanden. »Ich hatte keine Ahnung, dass man auch hier in den Untergrund gelangen kann.«
»Ich auch nicht.« Ich hob das Gitter hoch. Darunter befand sich ein außergewöhnlich schmaler Schacht, der zu einem Tunnel führte. Dieser machte eine scharfe Kurve nach Westen, sodass man dort tatsächlich unter das Pioneer-Building gelangte. Auf einmal standen wir vor zwei schmalen Stahltüren, hinter denen eine steile Metalltreppe weiter nach unten führte. Langsam stiegen wir sie im Licht von Quintons Taschenlampe hinunter.
Die schmale Treppe schien ursprünglich einmal Bediensteten oder Arbeitern als Zugang zum Pioneer-Building gedient zu haben. Offenbar wurde die ganze Gegend irgendwann umgebaut und dadurch der Originalzugang verschlossen. Leider war es mir nicht möglich, die ineinander verwobenen Zeitschichten im Grau getrennt zu betrachten, um zu erfahren, was sich an dieser Stelle früher einmal befunden hatte. Im Grau herrschte hier ein völliges Chaos, als ob Zeit und Raum noch immer von einem magischen Erdbeben erschüttert würden.
Am Fuß der Treppe befand sich ein kurzer Korridor, der meiner Meinung nach unter den Bürgersteig vor dem Pioneer-Building führte. Er endete abrupt an einer Wand.
»Sackgasse«, sagte ich. Aber irgendetwas stimmte mit dieser Wand nicht …
Ich schob die normale Welt von mir und betrachtete die Wand im Grau. Je tiefer ich eindrang, desto stärker verwandelte sich die Mauer in eine schwarze Masse, die von
roten und gelben Energiefäden sowie Fetzen blassen Nebels durchzogen war. Ich ging in die Hocke und betrachtete die sich sanft schlängelnden Fäden. Je mehr ich mich ihnen näherte, desto stärker konnte ich die schwache Brise spüren, die sie in Bewegung versetzte. Ich roch Alter, Schlamm, Salzwasser und Fäulnis. Die Fäden hatten nicht nur eine graue Farbe – nein, sie bestanden aus dem Grau. Ich griff in das Netz, das sie bildeten, und zog es so vorsichtig wie möglich auseinander.
Durch die Mauer war ein Loch gefressen worden, hinter dem sich ein schmaler Tunnel öffnete. Als ich mich Quinton zuwandte, sah dieser eher wie eine Säule aus Wasserdampf aus, durchzogen von grell leuchtenden Energiesträngen, und nicht wie ein Mensch.
»Sieht so aus, als wäre es an der Zeit, die Sache anzugehen«, sagte ich.
Quinton wirkte nervös. Seine Augen wanderten von einem Punkt über meinem Kopf zu dem Loch in der Wand, das von den grauen Fäden verdeckt gewesen war. Mir wurde klar, dass er an die Stelle blickte, wo sich mein Kopf befunden hätte, wenn ich noch gestanden hätte. Offensichtlich konnte er mich im Zwielicht kaum sehen und hatte nicht bemerkt, dass ich in die Hocke gegangen war. Ich befand mich so nahe am Energiegeflecht des Grau, dass ich ihn auch nicht wie sonst sah. Ob uns wohl die Geister auf diese Weise wahrnahmen? Ich bezweifelte es eigentlich, da die meisten sich nicht so nahe am Energienetz aufhielten, wie ich das nun tat.
Ich kehrte in die Welt zurück, die ich normalerweise sah – die Welt von Quinton und mir, die doch stets durchzogen war von einem Nebel, von Energiefäden, Geistern und Strömungen aus Zeit und Erinnerung.
Quinton zuckte zusammen,
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