Underground
sah mich um. Zum Glück zeigten sich in unmittelbarer Nähe keine weiteren seltsamen Monster, die mich angreifen wollten. Weder die vorübereilenden Fußgänger noch die Obdachlosen machten sich auch nur die Mühe, mir einen Blick zuzuwerfen. Die Einzige, die mich beachtete, war die gewaltige Frau unter dem Totempfahl. Doch auch sie kicherte bloß und schlug sich auf die Schenkel, als ob mein Versuch, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, das Lustigste wäre, was sie jemals zu Gesicht bekommen hätte.
Im Gegensatz zu ihr war ich alles andere als amüsiert. Die Begegnung hatte mich zutiefst verunsichert. Ich blieb für einen Moment stehen, bevor ich den letzten Block bis zu meinem Büro gehen konnte.
Das Wesen hatte mir nichts getan. Ich hatte keine Ahnung, was es von mir wollte, aber trotzdem beunruhigte mich die Geschichte. Was konnte sein plötzliches Wiederauftauchen bedeuten? Ich war mir ziemlich sicher, dass mir die Antwort auf diese Frage nicht gefallen würde. Während ich die Treppen zu meinem Büro hinaufstieg und immer wieder zusammenzuckte, weil mein Knie so schmerzte, versuchte ich nicht länger an den Zwischenfall zu denken. Als ich schließlich an meinem Schreibtisch saß und endlich zum Telefon griff, um Will wegen des Abendessens anzurufen, war es mir gelungen, mich fürs Erste zu
beruhigen, auch wenn ich immer wieder an den Vorfall denken musste.
Will hob sofort ab. Er klang ziemlich verärgert.
»Hi. Störe ich gerade?«, wollte ich wissen.
»Hallo, Harper. Nein, kein Problem.« Er holte hörbar Luft, und danach klang seine Stimme entspannter. »Ich bin gerade im Laden eines alten Freundes am Alaskan Way. Es ist nur …« Im Hintergrund war ein lautes Krachen zu hören. Es klang ganz so, als ob ein Stapel Bretter umgefallen wäre. Jemand fluchte. Will murmelte etwas, das ich nicht verstand, und kehrte dann zu unserer Unterhaltung zurück. »Ich glaube, er hat gerade eine alte Telefonzelle kaputt gemacht … Also. Hast du heute Abend Zeit?«
»Ja. Und wie sieht es bei dir aus?«
»Zeit habe ich eigentlich nicht. Aber ich möchte dringend hier weg und dich sehen.«
Ich lächelte. »Wie wäre es mit dem Bookstore?«
»Ich dachte, du wolltest etwas essen …«
»Will ich auch, Dummerjan. So heißt die Bar im Alexis Hotel an der First Avenue. Dort gibt es gutes Essen, die Wände sind voller alter Bücher, und auch die alten Möbel dürften dir gefallen …«
Will schnaubte angewidert. »Ich hasse Lokale, wo man meterweise Bücher zur Dekoration verwendet.«
»Es sind echte Bücher. Man kann sie sogar aus dem Regal nehmen und lesen. Du darfst sie auch kaufen. Phoebe hat mir erzählt, dass ihr die Barbesitzer die Bücher auf einer Auktion unter der Nase weggeschnappt hätten. Offensichtlich stammen sie alle aus einem Antiquariat, das zumachen musste.«
»Na ja …«, sagte er, wobei er noch immer misstrauisch klang. »Also gut, einverstanden. Wir können es ja mal versuchen.
Wann wollen wir uns treffen? Wie wäre es in einer Viertelstunde? Gleich dort?«
»Okay«, stimmte ich zu. Nachdem ich aufgelegt hatte, saß ich noch eine Weile da und starrte vor mich hin. Das Ganze kam mir etwas seltsam vor.
Will und ich mochten beide alte Dinge, weshalb ich auch angenommen hatte, dass die kleine Bar und das Restaurant mit den alten Holzmöbeln und antiquarischen Büchern genau das Richtige für uns wäre. Doch jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Leider konnte ich mich nicht mehr an die Ausstattung des Lokals erinnern, in dem wir das erste Mal zusammen gegessen hatten. Ich war viel zu sehr an Will interessiert und außerdem dankbar gewesen, nicht von einem Auto überfahren worden zu sein. Aber war es nicht ähnlich alt gewesen?
Es frustrierte mich, dass ihn mein Vorschlag so wenig zu überzeugen schien. War er schon immer so pingelig gewesen? Ich nahm es eigentlich nicht an … Aber vielleicht war gemeinsames Essen nicht unsere Stärke – vor allem wenn man bedachte, wie oft bereits etwas dazwischengekommen war.
Da ich wusste, dass es in der Nähe des Hotels sehr schwer war, einen Parkplatz zu finden, ging ich zu Fuß zur First Avenue hinunter und nahm dort einen Bus. Als ich an der Madison Street ausstieg, sah ich, wie Will gerade das Restaurant betrat.
Er saß an einem kleinen Holztisch in einer Nische im hinteren Teil des Lokals, als ich eintrat. Dort war es angenehm warm. Obwohl man die großen Fensterscheiben zur Straße hin doppelt verglast hatte, war es um diese Jahreszeit zu kalt, um
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