Underground
Obdachloser lag dort in einem Tunnel. Ich habe ihn zufällig entdeckt, als ich nach jemand anderem gesucht habe. Und dann konnte ich ihn nicht einfach dort zurücklassen, bis die Polizei kam und mit mir gesprochen hat. Ich bin mir sicher, dass die Bahngesellschaft nicht gerade begeistert sein dürfte. Aber von der Polizei habe ich keinerlei Anweisungen bekommen, meinen Mund zu halten. Vermutlich war es sowieso nur ein tragischer Unfall.«
»Im Tunnel.« Will war ein bisschen blass um die Nase geworden.
»Ja. Ich hielt es für das Beste, wenn du dir das nicht auch noch antust.« Ich entschloss mich, das Thema zu wechseln. »Dein Tag klingt wesentlich schöner. Willst du mir nicht noch etwas über diese Puzzle-Box erzählen?«
»Gern. Sie ist wirklich ungewöhnlich«, begann er. Seine Augen leuchteten, während er erzählte. Will liebte seltsame alte Dinge, und es waren diese wesentlich zugänglicheren Geheimnisse, die ihn bis nach England und von den unangenehmen Heimlichkeiten meines Charakters weggeführt hatten.
»Die meisten Puzzle-Boxen sind rechteckig oder quadratisch, und die berühmten japanischen sind meist komplizierte Intarsienarbeiten, die noch besser verbergen, wie sie sich bewegen lassen. Normalerweise hätte ich eine wie diese hier – also eine runde – ein Vexier genannt. Aber Vexiere sind nicht hohl, während Puzzle-Boxen normalerweise nicht rund sind. Wir haben es also mit einer ungewöhnlichen Mischform zu tun.«
Ich lauschte dem melodischen Rhythmus seiner warmen Stimme und beobachtete, wie seine Freude an dem Gegenstand eine Aura aus hellem Gold um seinen Kopf erstrahlen ließ. Für eine Weile vergaß ich den Toten im Tunnel und wünschte mir nichts mehr, als ewig so mit Will sitzen bleiben zu können.
DREI
A ls wir schließlich das Lokal verließen, steckte ich die Holzkugel in meine Tasche. Draußen wirkte es im Vergleich zu der gemütlichen Wärme, die wir gerade hinter uns gelassen hatten, noch kälter. Unter dem Licht vor dem Restauranteingang tummelte sich eine Handvoll Falter, von denen ich einen Moment nicht wusste, ob sie in der realen oder in der grauen Welt existierten.
Ich kam auf dem eisigen Beton ins Rutschen. Will fasste mich am Arm und hielt mich gerade noch fest. Ich konnte seine warme Berührung mit allen Fasern meines Körpers spüren. Für einen Moment glaubte ich das leise Flattern der Falterflügel zu hören, das wie gespenstisches Geflüster in meine Ohren drang.
»Kann ich dich zu deinem Auto zurückfahren?«, bot Will mir an. »Ich habe unter der Überführung geparkt.«
Es wäre dumm gewesen, den kurzen Spaziergang zu seinem Auto abzulehnen und stattdessen sechs Blocks bis zu meinem Wagen allein zurücklegen zu wollen. Ich hatte au ßerdem keine Lust, in der Kälte auf einen Bus zu warten. Zudem war der Abend im Vergleich zu den letzten Tagen sehr gut verlaufen. Unsere Beziehung schien wieder etwas Aufwind zu bekommen. Ich nahm Wills Vorschlag also an, und wir liefen gemeinsam Richtung Elliot Bay.
Die übereinandergelagerte Straßenführung des Viadukts ragte wie ein Kartenhaus über das Ufer hinaus. Es schien jeden Moment über dem unbebauten Land darunter zusammenzubrechen. Reihen alter Lagerhäuser standen auf einer Seite den kleinen Geschäften und Galerien am Ufer gegenüber. Eine leere Fläche aus grobkörnigem Teer, die mit Markierungslinien und Pfeilen versehen war, breitete sich in der Größe eines Fußballfeldes dazwischen aus. Entlang der alten, schon lange stillgelegten Straßenbahnlinie wuchsen verkrüppelte Büsche. Ansonsten zeigte sich auf diesem Ödland nichts Lebendiges.
Ich schlug die Falter fort, die mir um den Kopf flatterten, und hätte dabei fast das kleine Tier übersehen, das auf einmal aus einer Hecke geschossen kam. Das schmutzig gelbe Licht der Straßenlaternen am Ufer spiegelte sich in seinem rotbraunen Fell wider. Es wirkte wie ein Hund mit großen spitzen Ohren und einem buschigen Schwanz, wie es so über den leeren Platz bis auf wenige Schritte auf uns zulief. Dann machte es plötzlich kehrt, warf noch einen raschen Blick über seine Schulter und verschwand genauso lautlos wieder in der Dunkelheit, wie es gekommen war.
Will starrte dem Tier hinterher. »Was war das?«, fragte er.
»Ein Fuchs … glaube ich.« Ich wusste nicht, warum, aber ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
»Ein Fuchs?«, wiederholte er ungläubig und folgte dem Tier einige Schritte, ehe er stehen blieb. »Woher soll der denn gekommen sein?
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