Underground
Vielleicht war es ja auch der Bahnwärter, der wütend war.
Noch ehe ich mir weitere Gedanken machen konnte, hörte ich das Pfeifen einer Lokomotive und sah den ersten Pendlerzug, der Richtung Sound fuhr. Offensichtlich begann nun der Nachmittagsverkehr. Es musste also bereits nach drei sein. Vermutlich blieb Solis nicht viel Zeit, sich den Tatort genau anzusehen. Ich konnte mir vorstellen, dass weder die Bahnhofsangestellten noch die Zugfirma Sound Transit großes Interesse daran hatten, den Tod eines Obdachlosen aufzuklären. Ihnen war ihre Kundschaft aus Büroangestellten der Mittelschicht sicher wesentlich wichtiger. Selbst die Polizei von Seattle zog es vor, sich nicht mit der Bahn und ihrer mächtigen politischen Lobby anzulegen, wenn es sich vermeiden ließ. Auch Polizisten überlegen sich schließlich genau, ob sich eine Auseinandersetzung lohnt oder nicht.
Ich wandte mich ab und ging in westlicher Richtung weiter. Die Sonne, die bereits unterzugehen begann, stach mir in die Augen. Die lange Zeit in der Kälte hatte mein
Knie steif werden lassen, sodass ich die sechs Blocks bis zu meinem Büro ziemlich hinkte.
Ich hatte keine Lust, den ersten Betrunkenen auf der Second Avenue auszuweichen, weshalb ich den Weg über die Occidental Avenue wählte. Es war ein breiter Boulevard, der in eine Fußgängerzone umgewandelt worden war und früher einmal das Herz von Seattles Amüsierviertel gebildet hatte. Inzwischen fanden sich hier kleine Galerien und Kunstgewerbeläden sowie überteuerte Pubs, wo man angeblich typisch englische Pubkost zu sich nehmen konnte. In Wahrheit wurden einem italienische Bratwürste der CasCioppo Brothers mit einem Knoblauchkartoffelbrei aufgetischt.
Die letzte Bastion des ursprünglichen Sündenpfuhls auf der Occidental Avenue war Temple Billiards. Doch auch hier entdeckte man in letzter Zeit an der Garderobe eher Lederjacken von namhaften Designern als solche mit Nieten und Ketten. Ich war müde, und obwohl diese Straße nicht gerade zu den sichersten von Seattle gehört, musste ich das Grau hier nicht von mir weisen, sondern konnte mich entspannen und es einfach über mich hinwegschwappen lassen.
Trotz der Yuppisierung hatte sich die Occidental Avenue äußerlich seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht wesentlich verändert. Damals waren hier die letzten Straßen und Trottoirs entstanden. Später hatte man in einem Anfall von Bürgernähe am nördlichen Ende einen offenen Park mit großen weißen Ziegeln angelegt, die an das unregelmäßige Gebiss eines Riesen erinnerten. Der Rest der Gegend oberhalb des Stadions hatte ebenfalls sein ursprüngliches Aussehen mit Ziegelhäusern und Kopfsteinpflastern zurückbekommen. Hier bestand für mich nicht
die Gefahr, aus Versehen in eine Lücke im Grau zwischen einer alten Straße und neuen Anbauten zu stolpern. Am Gefährlichsten waren hier das vereiste Kopfsteinpflaster und die Möglichkeit, im Grau oder in der normalen Welt jemandem mit stinkendem Atem und schlechten Manieren zu begegnen.
Zwischen den historischen Bauten aus Ziegeln und Stein wurde es allmählich dunkel. Die hübschen dreiarmigen Straßenlaternen gingen an und warfen längliche Lichtkegel auf das Kopfsteinpflaster. Selbst in dieser Atmosphäre konnte ich im Grau die durchsichtige Form einer Statue erkennen, die bis in die neunziger Jahre hier gestanden hatte. Es handelte sich um eine lebensgroße Bronzekuh, auf deren Rücken ein heulender Kojote gesessen hatte. Zahlreiche Geister gingen die Gassen auf und ab. Meistens waren es Männer, die in die früheren Saloons, Cabarets und Bordelle gingen. Schwach beleuchtete Schilder wiesen auf verschiedene Dienste hin, die man in den kleinen Läden feilbot. Vor allem konnte ich immer wieder den Hinweis auf Schneidereien lesen, die den Kunden damit lockten, seine Kleidung zu ändern, während er wartete. Ich fragte mich, was in einem so anrüchigen Viertel wie diesem wohl sonst noch alles geboten wurde, während man auf sein Kleidungsstück wartete.
Ich blieb vor der durchsichtigen Kuh stehen und beobachtete einen Geist aus der Goldgräberära, der auf dem Bürgersteig auf und ab ging. Es war eine Hure. Sie achtete ebenso wenig auf mich wie die anderen Gespenster. Wie so oft handelte es sich nur um eine sich wiederholende Erinnerungsschleife, die von der Stadt selbst generiert wurde.
Die meisten Geister sind nämlich genau das: Erinnerungsschleifen oder Zeitsplitter, die keinen eigenen Willen
oder Charakter besitzen. Sie
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