Underground
Gesellschaft noch ausgestoßen würden. Irgendwie besonders erbärmlich.
Schon bald würden sich alle für die Nacht in eines der Obdachlosenasyle oder Missionshäuser aufmachen, wo sie hofften, ein Bett und ein warmes Abendessen zu bekommen. Diejenigen, die keinen Platz in den überfüllten Schlafsälen fanden, mussten versuchen, irgendwie bis zum nächsten Morgen durchzuhalten, ohne von der Kälte oder einem Polizisten erwischt zu werden. Ich dachte daran, was Quinton gesagt hatte, und fragte mich, wie viele von ihnen wohl in dieser Nacht nicht mehr aufwachen würden. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. In einem Anflug von Mitleid und Schuldgefühl wühlte ich in meiner
Jackentasche und reichte dem ersten Bettler, der mich um Geld anging, die Münzen, die ich gefunden hatte.
Andere Fußgänger vermieden den Park, um nicht mit den Obdachlosen in Kontakt zu kommen. Sie starrten auf den Boden und eilten jenen wärmeren und angenehmeren Orten entgegen, die Seattle natürlich auch zu bieten hatte. Armut und Hoffnungslosigkeit erschreckte viele. Oder vielleicht spürten sie auch die verwirrenden und oftmals ambivalenten Gefühle, die sich hier im Grau in einer seltsamen Mischung aus Farben und kalten Wirbeln zeigte.
Inzwischen fror ich bis auf die Knochen. Ich überquerte die Main Street und ging durch den Park, wobei ich mich darum bemühte, den geteerten Weg nicht zu verlassen. Hier waren die Unruhefelder im Grau am wenigsten zu spüren.
Ich hatte beinahe die zwei Totempfähle am nördlichen Ende und den vor sich hinmurmelnden Mann erreicht, als auf einmal hinter dem gewaltigen Bär-Totempfahl etwas auf mich zugeschossen kam. Es kicherte und krächzte, und ich wirbelte herum, um zu sehen, was es war. Zu meiner Überraschung stellte es sich als ein buckliger Mann heraus, dessen Kleidung derart zerfetzt war, dass sie wie Streifen aus verfilztem Fell an ihm hing. Auch sein Bart und seine Haare waren lang und zottelig.
»Lady, Lady!«, rief er und streckte die Arme aus, um mich zu packen. Im Grau konnte ich einen Gestank nach Schwefel und Abwasser riechen. Außerdem schien mich ein metallischer Geruch aus Blut und Stahl zu umgeben. Je näher der Mann kam, desto mehr seltsam anmutende Strudel stiegen im Grau auf, bis sie den ganzen Park bedeckten.
Entsetzt wich ich zurück. Auf einmal wusste ich, wer er
war. Er war mir schon einmal gefolgt. In einer Gasse ganz in der Nähe hatte er – oder es? – mich gefragt, ob ich tot sei, und dann versucht, mich ins Grau zu ziehen. Damals hatte ich noch nicht gewusst, dass so etwas wie das Grau existierte. Beim letzten Mal, als ich dieses seltsame Wesen gesehen hatte, war er für mich einfach nur ein Betrunkener in einer Gasse gewesen. Doch inzwischen kannte ich das Grau besser. Jetzt sah ich deutlich, dass es sich weder um einen echten Mann noch um einen der üblichen Geister handelte. Es war vielmehr eine greifbare, gespenstische Erscheinung. Ich fasste nach einer Schicht im Grau und zog sie zwischen uns, sodass ich mich vor der Kreatur abschirmen konnte.
Andere Wesen hatte dieses Manöver meist abgelenkt oder von mir abgebracht. Diesmal jedoch hatte ich es mit jemandem zu tun, der meinen Schild nur beiseiteschob, als ob es sich um nichts anderes als Nebel oder einen Schleier handelte. Ich spürte, wie seine kalten Fingerspitzen meine Hand berührten. Er blieb vor mir stehen und hob den Kopf. Sein stinkender Atem blies mir ins Gesicht. Das Gesicht unter seiner verfilzten Haarmähne war zur Hälfte zerstört. Es war eine riesige Wunde, aus der mich ein furchterregendes smaragdgrünes Auge anblitzte.
Ich erwiderte seinen Blick, da es mir nicht mehr möglich war, mich dagegen zu wehren. Das Auge schien mir direkt in die Seele zu blicken. Dann seufzte der Mann, als ob er mit einem Schlag von allen Schmerzen befreit wäre.
Das Wesen holte tief Luft und meinte: »Tot genug, Lady … Ja.« Es klopfte mir mit seiner schmutzverkrusteten Hand auf die Brust. Mein Anblick schien es zufriedenzustellen. Ich spürte, wie die Berührung in meine Glieder fuhr. Die Kreatur lachte und hinkte dann gebückt davon.
Dabei sah ich, dass der Rücken genau so zerstört und offen war wie das Gesicht.
Ich begann zu schwanken. Das gefrorene Kopfsteinpflaster unter meinen Füßen wurde noch rutschiger. Es gelang mir gerade noch, mich auf den Beinen zu halten. Ich holte tief Luft. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich während der Begegnung mit dem unheimlichen Wesen kaum geatmet hatte. Ich
Weitere Kostenlose Bücher