Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Norden. Ich schaue zu Jeffrey rüber, und er erwidert meinen Blick mit einem selbstgefälligen Grinsen; er scheint mit sich zufrieden, als habe er die ganze Zeit gewusst, dass es ganz leicht sein würde. Mich erschüttert fast, wie leicht es tatsächlich ist. Ich habe das Gefühl, dass wir doppelt so viel Gewicht tragen könnten. In meinem Kopf rasen die Gedanken, ich überlege, was das bedeuten könnte. Wenn ich Christian allein nicht heben kann, soll mir dann vielleicht jemand helfen? Oder verstößt das gegen die Regeln?
«Jeffrey, vielleicht ist das ja die Lösung.»
«Was ist die Lösung?», fragt er ein wenig abgelenkt und zieht die Reisetasche ein wenig höher, um sie besser in den Griff zu bekommen.
«Deine Aufgabe. Vielleicht sollen wir das ja zusammen machen.»
Er lässt los. Sofort reißt mich die Tasche runter, und dann lasse auch ich los. Wir sehen, wie sie in einen Busch auf dem Waldboden kracht.
«Das ist nicht meine Aufgabe», sagt er mit tonloser Stimme. Seine grauen Augen wirken kalt und distanziert.
«Was ist denn los?»
«Nichts. Es dreht sich nur nicht immer alles um dich, Clara.»
Das Gleiche hat Wendy schon einmal zu mir gesagt. Ein Satz wie ein Schlag in die Magengrube.
«Tut mir leid», sage ich leise. «Ich hab mich einfach so gefreut bei dem Gedanken, dass ich vielleicht Hilfe bekomme. Es ist so schwer für mich, alles allein zu machen.»
«Wir müssen es allein machen.» Er dreht sich in der Luft in Richtung Garten. «So ist das nun mal.»
Eine ganze Weile starre ich ihm hinterher, dann gehe ich runter, um die Reisetasche aufzuheben. Eine der Wasserflaschen, die ich hineingelegt hatte, ist kaputtgegangen, und langsam sickert das Wasser auf die trockene Erde.
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Bären abwehren
Am nächsten Morgen zu unchristlicher Zeit klingelt mein Handy. Ich stöhne unter der Bettdecke und taste auf dem Nachttisch nach dem Handy, finde es, ziehe es mit unter die Decke und melde mich völlig arglos.
«Was?»
«Ach, schön. Du bist wach.» Tucker.
«Wie spät ist es?»
«Fünf.»
«Ich bring dich um.»
«Ich bin auf dem Weg zu dir», sagt er. «In einer halben Stunde bin ich da. Ich dachte, ich rufe dich vorher lieber mal an, damit du noch Zeit hast, dich zu kämmen und dir die Nase zu pudern.»
«Denkst du etwa, ich schminke mich, um mit dir durch die Wildnis zu stapfen?»
«Siehst du, das mag ich so an dir, Karotte. Du stellst dich kein bisschen an.»
Ich lege auf. Dann werfe ich die Bettdecke zurück, liege einen Moment still da und schaue zur Decke hoch. Draußen ist es stockdunkel. Mir wird klar, dass ich von ihm geträumt habe, obwohl ich mich an Einzelheiten nicht erinnern kann. Irgendwas mit der großen roten Scheune auf der Lazy Dog Ranch. Ich gähne. Dann zwinge ich mich dazu, aufzustehen und mich anzuziehen.
Ich gehe nicht unter die Dusche, denn das Geräusch würde meine Mutter wecken. Also spritze ich mir nur kaltes Wasser ins Gesicht und trage ein bisschen Feuchtigkeitscreme auf. Mehr brauche ich nicht. Seit einiger Zeit hat meine Haut einen eigenen natürlichen Glanz, ein weiteres Zeichen dafür, dass sich allmählich alles verändert, dass alles intensiver wird, genau so, wie meine Mutter es vorausgesagt hat. Ich trage noch ein wenig Wimperntusche und Lipgloss auf, dann richte ich meine Aufmerksamkeit auf die wilden Wellen von Haar, die mir auf den Rücken herabfallen. In einer Strähne hängt ein Klümpchen Baumharz, ein Beweis für die Flugübung von letzter Nacht. Die nächsten fünf Minuten verbringe ich mit dem Versuch, das Harz aus dem Haar zu lösen, und als ich es schließlich geschafft habe und es mit einem ganzen Büschel von Haaren in der Hand halte, höre ich auf dem Kiesweg draußen das Geräusch von Autoreifen.
Leise schleiche ich nach unten. Jeffrey hatte recht. Mama ist nicht in ihrem Zimmer. Ich schreibe einen Zettel und lasse ihn auf der Küchentheke für sie liegen: Hallo, Mama, ich bin mit ein paar Freunden unterwegs. Wir wollen den Sonnenaufgang anschauen. Bin bald wieder da. Mein Handy habe ich dabei. C. Dann bin ich zur Tür raus.
Diesmal bin ich nervös, aber Tucker tut, als wäre alles genau wie immer; er verhält sich so völlig normal, dass ich mich schon frage, ob ich mir die Spannung zwischen uns gestern nur eingebildet habe. Bei unserem üblichen Geplänkel entspanne ich mich. Sein Lächeln ist ansteckend. Während der ganzen Fahrt ist sein Grübchen zu sehen, und er fährt so schnell, dass ich mich in den Kurven
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