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Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Titel: Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cynthia Hand
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an dem Griff oberhalb der Tür festhalten muss. Hinter Grand Teton nimmt er eine versteckte Nebenstraße und umgeht so das Haupttor, dann düsen wir die menschenleere Landstraße entlang.
    «Also was ist heute für ein Tag?», frage ich.
    «Häh?»
    «Du hast gesagt, heute ist ein besonderer Tag für dich.»
    «Ach ja. Das wirst du schon sehen.»
    Wir fahren nach Jackson Lake. Er parkt und springt aus dem Truck. Ich warte, bis er herumkommt und mir die Tür aufmacht. Allmählich gewöhne ich mich an seine guten Manieren, so sehr, dass es mir inzwischen schon gefällt.
    Er guckt auf die Uhr.
    «Wir müssen einen Zahn zulegen», sagt er. «Sonnenaufgang ist in sechsundzwanzig Minuten.»
    Ich bücke mich und binde die Schnürsenkel an den Wanderschuhen zu. Und los geht es. Ich folge ihm runter vom Parkplatz und in den Wald hinein.
    «Welche Kurse belegst du im nächsten Schuljahr?», fragt er über die Schulter zurück, während wir auf der anderen Seeseite den Hügel hinaufklettern.
    «Nichts Neues», antworte ich. «Leistungskurs Analysis, Leistungskurs Englisch, Staatsbürgerkunde, Französisch, Physik, so was eben.»
    «Physik? Aha.»
    «Na ja, mein Vater ist Physikprofessor.»
    «Im Ernst? Wo denn?»
    «An der Uni in New York.»
    Er pfeift. «Ganz schön weit weg von hier. Wann haben sich deine Eltern getrennt?»
    «Bist du heute zum Plaudern aufgelegt?», frage ich mit leichter Schärfe in der Stimme. Bei dem Gedanken, ihm meine Lebensgeschichte zu erzählen, fühle ich mich äußerst unbehaglich. Als könnte ich mich nicht mehr bremsen, wenn ich einmal anfange. Und dann würde ich irgendwann die ganze Geschichte herausposaunen: Mama ist ein Halbengel, ich ein Viertelengel, das von meiner Vision, meinen Kräften, meiner Aufgabe, von Christian und was dann? Ihn von seinen Rodeos erzählen lassen?
    Er bleibt stehen, dreht sich um und sieht mich an. Seine Augen funkeln schelmisch.
    «Wir müssen immer weiterreden wegen der Bären», sagt er leise und ganz schön dramatisch.
    «Wegen der Bären.»
    «Wir müssen Krach machen. Wir wollen doch keinen Grizzly überraschen.»
    «Nein, ich nehme an, das wollen wir nicht.»
    Er steigt weiter den Pfad hinauf.
    «Na, dann erzähl mir doch, was mit deinem Großvater passiert ist, als deine Familie die Ranch verloren hat», sage ich schnell, um ihm keine Gelegenheit zu geben, weiter nach meiner Familie zu fragen. Er geht weiter, aber ich kann beinahe spüren, wie er sich verspannt. Jetzt habe ich den Spieß umgedreht. «Wendy sagt, dass du deshalb einen Hass auf Kalifornier hast. Was ist denn passiert?»
    «Ich habe keinen Hass auf Kalifornier. Bestimmt nicht.»
    «Puh, da bin ich aber erleichtert.»
    «Das ist eine lange Geschichte», sagt er, «und so lange wandern wir nicht.»
    «Okay. Tut mir leid. Ich wollte nicht …»
    «Schon gut, Karotte. Ich erzähl es dir irgendwann mal. Aber nicht jetzt.»
    Dann fängt er an zu pfeifen, und wir reden nicht weiter. Was uns beiden nur recht zu sein scheint, Bären oder nicht.

    Nachdem wir noch ein paar Minuten mühsam geklettert sind, kommen wir an eine Lichtung ganz oben auf einer kleinen Anhöhe. Der Himmel ist durchtränkt von einer Mischung aus Grau und Blassgelb, hier und da durchbrochen von hellrosa Wolken, die genau da schweben, wo sich die Teton-Berge in die Höhe recken, die reine violette Majestät der Berge, die sich wie Könige am Rand des Horizonts erheben. Tief unten liegt der Jackson Lake, so kristallklar, dass es aussieht, als gäbe es Berge und Himmel zwei Mal, in perfekter Kopie.
    Tucker schaut auf die Uhr. «Noch sechzig Sekunden. Wir sind gerade rechtzeitig gekommen.»
    Ich kann den Blick nicht von den Bergen abwenden. Etwas so überirdisch Schönes habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ich fühle mich mit den Bergen auf eine Art verbunden, wie ich es noch nirgendwo sonst empfunden habe. Ich kann ihre Gegenwart förmlich spüren. Wenn ich einfach nur auf die gezackten Gipfel schaue, die sich vor dem Himmel abheben, werde ich von tiefem Frieden überschwemmt, so wie die Wellen des Sees unter uns das Ufer umspülen. Angela hat die Theorie, dass sich Engelblutwesen von den Bergen angezogen fühlen, dass in den Bergen Himmel und Erde einander näher sind, dort, wo die Luft zum Atmen dünner wird. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass der Anblick der Berge in mir die Sehnsucht zu fliegen weckt, die Sehnsucht, die Erde von oben zu sehen.
    «Hier rüber.» Tucker dreht mich in die entgegengesetzte Richtung, wo

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