Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
ein kleiner Kratzer.»
«Es ist eine tiefe Schnittwunde. Wir müssen sie schließen.»
Langsam senke ich die Hand auf seine. Er nimmt sie und dreht sie sacht um, sodass meine verletzte Handfläche nach oben zeigt. Dann nimmt er das Küchentuch weg.
«Siehst du?», sage ich. «Nur eine winzige Fleischwunde.»
Er starrt unverwandt auf meine Hand. Mir wird bewusst, dass ich den Atem anhalte. Ich sage mir, dass ich mich entspannen muss. Verhalte dich ganz normal, wie Mama sagt. Ich kann das erklären. Ich muss das erklären.
«Willst du mir aus der Hand lesen?», frage ich und lache wenig überzeugend.
Sein Mund verzieht sich. «Ich hab gedacht, du müsstest genäht werden.»
«Ach wo. Falscher Alarm.»
Er macht sich daran, die Wunde zu versorgen. Zuerst reinigt er den Schnitt mit Wasser, trägt etwas Salbe auf, dann legt er mir vorsichtig einen Verband an. Ich atme auf, als die Wunde vom Verband verdeckt ist und er sie endlich nicht mehr anstarren kann.
«Danke», sage ich.
«Was ist mit dir los, Clara?» Sein Blick ist grimmig, als er zu mir aufschaut, so verletzt und anklagend, dass es mir den Atem nimmt.
«Was … was meinst du?», stottere ich.
«Ich meine», setzt er an. «Ich weiß nicht, was ich meine. Ich bin bloß … du bist bloß …»
Und dann sagt er weiter nichts mehr.
Es folgt das längste, peinlichste Schweigen in der Geschichte aller langen, peinlichen Schweigevorfälle. Ich sehe ihn an. Auf einmal bin ich so erschöpft von all den Lügen, die ich ihm aufgetischt habe. Er ist mein Freund, und ich belüge ihn tagein, tagaus. Er verdient etwas Besseres. In diesem Moment wünsche ich mir, mehr als alles, was ich mir je gewünscht habe, dass ich ihm alles erzählen könnte. Ich wünschte, ich könnte mich vor ihn hinstellen und ganz ich selbst sein und ihm alles erklären. Aber das ist gegen die Regeln. Und es sind keine Regeln, die man leichtfertig bricht. Ich habe keine Ahnung, welche Konsequenzen es hätte, wenn ich ihm die Wahrheit sagen würde.
«Ich bin eben so, wie ich bin», sage ich leise.
Er schnaubt verächtlich. Dann nimmt er das Küchentuch und hält es hoch, ein bisschen weißer Stoff, in der Mitte durchtränkt von meinem unglaublich hellroten Blut. «Wenigstens weiß ich jetzt, dass du blutest», sagt er. «Das ist doch schon was, denke ich. Du bist nicht völlig unbesiegbar, oder?»
«Ja klar», antworte ich mit so viel Sarkasmus wie nur möglich. «Hältst du mich etwa für Supergirl? Verletzlich nur durch Kryptonit?»
«Ich weiß nicht, was ich denken soll.» Inzwischen hat er den Blick vom Küchentuch losreißen können und sieht wieder mich an. «Du bist nicht … normal, Clara. Du tust gern so, als ob. Aber das bist du nicht. Du hast mit einem Grizzly geredet, und er hat dir gehorcht. Vögel folgen dir wie in einem Disney-Comic, oder ist dir das noch nicht aufgefallen? Und als ihr damals aus Idaho Falls zurückgekommen seid, hat Wendy eine Zeitlang gedacht, du seist vor irgendwem oder irgendwas auf der Flucht. Du bist auffallend gut in allem, was du unternimmst. Du reitest, als wärst du im Sattel geboren, bei deinem ersten Mal auf Skiern hast du perfekte Parallelschwünge hingekriegt, und offensichtlich sprichst du fließend Französisch und Koreanisch und wer weiß was sonst noch. Gestern ist mir aufgefallen, dass deine Augenbrauen in der Sonne irgendwie glitzern. Und irgendwas ist an deinen Bewegungen, das über bloße Anmut hinausgeht, etwas, das sogar über das Menschliche hinausgeht. Es ist, als ob du … irgendwas anderes wärst.»
Ein heftiger Schauer durchfährt mich vom Kopf bis zu den Füßen. Er hat alles tadellos zusammengefasst. Er weiß nur nicht, worauf das hinausläuft.
«Und für all das kann es unmöglich eine rationale Erklärung geben», sage ich.
«Wenn ich dann noch an deinen Bruder denke, gibt es nur eine Erklärung, die mir in den Sinn kommt: Dass deine Familie Teil eines geheimen Experiments der Regierung ist und dass ihr irgendwie genetisch veränderte, tierfreundliche Supermenschen seid», sagt er. «Und ihr seid alle auf der Flucht.»
Ich schnaube verächtlich. Es wäre komisch, wenn die Wahrheit nicht so viel merkwürdiger wäre. «Du klingst ziemlich verrückt, weißt du das?»
Noch so ein Rekordschweigen. Dann seufzt er.
«Ich weiß. Es ist verrückt. Ich fühle mich …» Er sagt weiter nichts. Plötzlich sieht er so elend aus, dass ich aus tiefstem Herzen mit ihm leide.
Ich hasse mein Leben.
«Ist schon gut, Tuck», sage
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