Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
schmeckt, wird er ganz schwach in den Knien, und schwach will er vor mir nicht sein. Also zieht er sich zurück, und sein Atem geht heftig. Schlagartig löst er die Arme von mir.
Ich öffne die Augen.
«Stimmt was nicht?», frage ich.
Er kann nicht sprechen. Unter seiner sonnengebräunten Haut ist er blass geworden. Und da merke ich, dass es zu hell hier drin ist, zu hell für das schummrige Dunkel einer Scheune, und das Licht kommt von mir, strahlt in Wellen von mir aus.
Ich stehe da in meinem himmlischen Glanz. Entsetzt starrt Tucker mich an. Ich spüre seinen Schockzustand. Jetzt kann er alles sehen, in diesem Licht, das durch meine Kleidung strahlt, sodass ich genauso gut nackt vor ihm stehen könnte. Ich ziehe scharf die Luft ein. Etwas in mir verkrampft sich schmerzhaft bei dem Ausdruck des Schreckens in seinen Augen, und dann verschwindet das Licht wieder, einfach so. Seine Anwesenheit in meinen Gedanken verblasst, als sich die Scheune wieder verdunkelt.
«Tut mir leid», sage ich. Ich sehe, wie die Farbe langsam wieder in sein Gesicht zurückkehrt.
«Ich weiß nicht, was …», setzt er an, und dann hält er inne.
«Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass …»
«Was bist du?»
Ich zucke zusammen.
«Ich bin Clara.» Wenigstens mein Name hat sich nicht verändert. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und strecke die Hand aus, um ihn zu berühren. Er zuckt zurück. Dann packt er meine Hand, die mit der Schnittwunde. Ich stöhne, als er den Verband wegreißt.
Die Wunde ist inzwischen vollständig verheilt. Nicht einmal eine Narbe ist noch zu sehen. Wir schauen beide auf meine Handfläche hinunter. Dann lässt Tucker meine Hand fallen.
«Ich wusste es», sagt er.
Eine seltsame Mischung aus Panik und Erleichterung durchströmt mich. Hierfür gibt es keine simple Erklärung mehr. Es bleibt mir nichts anderes übrig, ich werde es ihm sagen müssen. «Tuck …»
«Was bist du?», will er noch einmal wissen. Stolpernd macht er ein paar Schritte rückwärts.
«Das ist kompliziert.»
«Nein.» Plötzlich schüttelt er den Kopf. Sein Gesicht ist immer noch so bleich und leicht grünlich, als ob er sich gleich übergeben muss. Immer weiter geht er weg von mir, und dann ist er beim Scheunentor; er dreht sich um und läuft aufs Haus zu.
Ich kann nichts anderes tun, ich muss zusehen, wie er wegläuft. Ich fühle mich von mir selbst losgelöst und zittere voller Angst vor dem, was da passiert ist. Ich bin ohne Auto hier. Und es ist durchaus möglich, dass Tucker im Haus ein Gewehr holt. Also laufe ich los. Ich stolpere auf den Wald am hintersten Ende der Ranch zu und bin dankbar für die Deckung durch die Bäume. Es wird allmählich dunkel. Als ich ein Stückchen weit in den Wald hineingelaufen bin, schießen meine Flügel hervor, ohne dass ich es ihnen hätte befehlen müssen. Ohne an irgendetwas zu denken, fliege ich und verliere vollkommen die Orientierung, ehe ich den Weg nach Hause erahnen kann, und von einem Moment auf den anderen ist der Himmel von Wolken bedeckt, und es ist so kalt, dass ich mit den Zähnen klappere, und ich bin blind vor Tränen und in Panik.
Ich weine, während meine Flügel mich nach Hause tragen. Ich weine und weine. Und es fühlt sich an, als würden die Tränen nie mehr versiegen.
Ein paar Stunden später findet mich meine Mutter in meinem Zimmer, wo ich in mein Kissen schluchze. Ich bin voller Kratzer und Schrammen, und mein Gesicht ist tränenverschmiert, doch als sie mich sieht, sagt sie nur: «Was ist denn mit deinem Haar passiert?»
«Was?» Verzweifelt ringe ich um Fassung, damit ich entscheiden kann, wie viel ich ihr von der ganzen Sache erzählen soll.
«Es hat wieder seine Naturfarbe. Das Rot ist total verschwunden.»
«Oh. Es war der himmlische Glanz. Er hat die Farbe wohl irgendwie entfernt.»
«Der himmlische Glanz? Er war da?», fragt sie, und ihre blauen Augen sind weit aufgerissen.
«Ja.»
«Ach, mein Schätzchen. Kein Wunder, dass du so aufgewühlt bist. Es ist eine so überwältigende Erfahrung.»
Sie hat keine Ahnung, was wirklich passiert ist.
«Ruh dich jetzt aus.» Sie drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. «Morgen früh kannst du mir alles erzählen.»
Als sie weg ist, schicke ich eine hysterische E-Mail an Angela: Notfall , schreibe ich und schaffe es kaum, meine Finger und mein Gehirn dazu zu bringen, eine derart schlichte Nachricht einzutippen. Sofort anrufen .
Mit niemandem sonst kann ich darüber reden. Niemandem kann ich davon erzählen.
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