Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
hier neben mir, genauso verunsichert wie ich, mit Ruß bedeckt, aber so wunderbar und so viel bedeutender, als ich je von ihm gedacht hatte. Aber ich habe bei meiner Aufgabe versagt. Ich habe keine Ahnung, was jetzt passieren wird. Ich weiß nur, dass ich mich dem nicht entziehen kann.
Hinter uns erklingt ein Geräusch, und sowohl Christian als auch ich wirbeln herum, um in die dichter werdende Schwärze zu schauen. Eine Gestalt fliegt durch die Bäume auf uns zu. Ich weiß nicht, ob Christian sich der Existenz von Schwarzflügeln bewusst ist, aber instinktiv nehmen wir uns an den Händen, als ob es nun so weit ist, als wäre es gekommen, unser letztes Stündlein auf Erden.
Es ist Jeffrey. Er landet am Rand der Wiese und blickt gehetzt, als wäre etwas hinter ihm her. Um seinen Rucksack, den er über der Schulter trägt, hat er den Arm gelegt, damit er seine Flügel nicht behindert. Er dreht sich um und wirft einen Blick auf unsere Einfahrt. Einen Moment lang wendet er mir den Rücken zu, und ich sehe nichts weiter als seine Flügel. Die Federn sind fast schwarz, haben die Farbe von Blei.
«Ist das dein Bruder?», fragt Christian.
Jeffrey hört ihn und richtet sich auf, als wolle er sich auf einen Kampf vorbereiten. Als er uns auf der Veranda entdeckt, hebt er die Hand, um seine Augen vor dem hellen Licht der Lampe zu schützen, dann blinzelt er, um sich zu vergewissern, wen er vor sich hat.
«Clara?», ruft er. Ich muss an die Zeit denken, als er ein kleiner Junge war. Damals hatte er Angst im Dunkeln.
«Ja, ich bin’s», antworte ich. «Alles in Ordnung mit dir?»
Er macht ein paar Schritte in den Lichtkreis der Veranda hinein. Sein Gesicht ist ein großer Flecken von Weiß in der Dunkelheit. Er riecht nach verkohltem Wald.
«Christian?», fragt er.
«Wie er leibt und lebt», antwortet Christian.
«Du hast es geschafft. Du hast Christian gerettet», sagt Jeffrey. Er klingt erleichtert.
Ich kann den Blick nicht von seinen dunklen Flügeln wenden. «Wo bist du gewesen, Jeffrey?»
Er fliegt zum Dach hinauf und landet behutsam vor seinem Zimmerfenster, das weit offen steht.
«Ich habe nach dir gesucht», erklärt er flüsternd, ehe er in sein Zimmer steigt. «Aber sag Mama nichts davon.»
Ich schaue hoch in den sternenlosen Himmel.
«Wir sollten reingehen, um alle zu beruhigen», sage ich zu Christian.
«Warte.» Er hebt die Hand, als wolle er mein Gesicht berühren. Ich zucke zurück, dann zuckt er zurück. Nur Zentimeter von meiner Wange hält seine Hand inne, eine Pose, fast identisch mit der, die ich in der Vision an die hundertmal gesehen habe. Das wissen wir beide.
«Tut mir leid», sagt er. «Du hast da einen Fleck.» Er holt Luft, als wolle er eine bewusste Entscheidung fällen, und seine Finger streifen meine Haut. Mit dem Daumen streicht er über eine Stelle auf meiner Wange, dann reibt er daran. «So. Jetzt ist er weg.»
«Danke», sage ich und werde rot.
Genau in dem Moment geht die Tür auf; Tucker steht da und starrt uns an, erst mich, um sich zu vergewissern, dass ich unverletzt und in einem Stück bin, dann Christian und dessen Hand, die immer noch nah bei meinem Gesicht in der Luft schwebt. Tuckers Gesichtsausdruck wechselt von besorgt und voller Liebe zu etwas Dunklerem, einer Willenskraft, die ich schon einmal in dem Moment gesehen habe, als er mit mir Schluss machte.
Blitzartig wende ich mich von Christian ab.
«Tucker», sage ich. «Ich bin ja so froh, dass du noch hier bist.»
Ich werfe mich in seine Arme. Er umklammert mich fest.
«Ich konnte nicht weg», sagt er.
«Ich weiß.»
«Ich meine, ganz wortwörtlich: Ich habe keine Fahrgelegenheit.»
«Wo ist meine Mutter?»
«Sie liegt auf der Couch und schläft. Es ist wohl alles in Ordnung mit ihr, aber sie ist völlig erschlagen. Sie war nicht gerade redselig.»
Christian räuspert sich verlegen.
«Ich sollte jetzt gehen», sagt er.
Ich zögere. Eigentlich hatte ich ihn mit zu mir nach Hause genommen, um mich gleich mit ihm und Mama zusammenzusetzen, damit er die Geschichte aus seiner Sicht erzählt und wir herausfinden, was das alles zu bedeuten hat. Aber das scheint jetzt nicht möglich zu sein.
«Wir reden später», sagt er.
Ich nicke.
Schnell dreht er sich weg und geht die Verandastufen hinunter.
«Wie wirst du denn jetzt nach Hause kommen?», fragt Tucker.
Einen kurzen Moment sieht Christian mir in die Augen.
«Ich rufe meinen Onkel an», sagt er langsam. «Ich geh runter zur Straße und warte da auf ihn.
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