Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
nicht in der Vision, aber immer noch finde ich ihn bildschön, auch wenn er feucht vom Regen und mit Asche verschmiert ist. Er nimmt meine Hände.
«Du lebst», bringe ich mühsam hervor und schüttele den Kopf. Er drückt meine Hände, dann umarmt er mich.
«Ja, das sind auch für mich gute Neuigkeiten.»
Mit der einen Hand streicht er langsam an meinen Flügeln hinab, was mich am ganzen Körper zittern lässt. Dann tritt er zurück, hebt seine Hand und betrachtet sie. Seine Handfläche ist schwarz. Ich starre sie an.
«Deine Flügel sind voller Ruß», sagt er und lacht.
Ich packe seine Hand, fahre mit dem Finger darüber, und tatsächlich ist mein Finger voller Ruß, gemischt mit Regenwasser. Er wischt sich die Hand an seiner Jeans ab.
«Und was machen wir jetzt?», frage ich.
«Lass uns einfach improvisieren.» Wieder schaut er mir in die Augen, dann betrachtet er meinen Mund. Und wieder durchzuckt es mich. Er leckt sich über die Lippen, dann sieht er mir wieder in die Augen. Fragend.
Dies könnte meine zweite Chance sein. Wenn keiner von uns gerettet werden musste. Was bleibt dann noch, außer dem hier? Es scheint, dass wir uns auf einem vom Himmel verordneten Date befinden. Das Feuer brauchen wir nicht. Wir könnten die Vision hier an Ort und Stelle in die Tat umsetzen.
«Du warst es von Anfang an», sagt er, so nah bei mir, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüre.
Ich ertrinke. Ich will, dass er mich küsst. Ich will alles wiedergutmachen. Damit meine Mutter stolz auf mich ist. Ich will tun, was mir bestimmt ist. Ich will Christian lieben, wenn es das ist, was für mich vorgesehen ist.
Christian beugt sich zu mir herunter.
«Nein», flüstere ich. Lauter sprechen kann ich nicht. Ich gehe einen Schritt zurück. Mein Herz gehört mir nicht mehr. Es gehört Tucker. Das kann ich nicht verleugnen. «Ich kann nicht.»
Sofort geht auch er einen Schritt zurück.
«Okay», sagt er. Er räuspert sich.
Ich hole tief Luft, versuche, wieder klar im Kopf zu werden. Endlich hat es aufgehört zu regnen. Es ist Nacht. Wir beide sind völlig durchnässt, wir frieren, und wir sind verwirrt. Noch immer halte ich seine Hand. Ich verstärke den Griff meiner Finger.
«Ich bin in Tucker Avery verliebt», erkläre ich ihm schlicht.
Er wirkt überrascht, als wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dass ich an einen anderen vergeben sein könnte. «Oh. Tut mir leid.»
«Ist schon gut. Es muss dir nicht leidtun. Außerdem, was ist mit dir und Kay?»
Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, als er schluckt. «Ich komme mir so blöd vor. Als ob das alles ein einziger großer Witz wäre. Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch glauben soll.»
«Ich auch nicht.»
Ich lasse seine Hand los, breite meine Flügel aus, erhebe mich in die Luft und steige von der Spitze des Felsvorsprungs auf, hinweg über den verkohlten Wald. Einen Moment lang starrt Christian mir nach, dann erhebt auch er sich. Wie ich ihn so sehe, mit diesen wunderschönen gefleckten Flügeln in der Luft, läuft mir ein Schauer über den Rücken und eine Welle von Verwirrung durch mein ohnehin schon erschüttertes Hirn.
Du kriegst mächtigen Ärger, Clara, sagt mein Herz.
«Na los», fordere ich ihn auf, als wir noch einen letzten Augenblick lang über der Fox Creek Road schweben. «Komm mit zu mir.»
Lange stehen wir draußen vor der Haustür. Inzwischen ist es völlig dunkel. Nur das Licht auf der Veranda ist an. In einem irgendwie festen Rhythmus wirft sich eine Motte wieder und wieder gegen das Glas. Ich falte meine Flügel zusammen und lasse sie verschwinden. Dann drehe ich mich zu Christian um. Auch seine Flügel sind nicht mehr zu sehen, aber er sieht aus, als würde er jetzt am liebsten davonfliegen und nie wiederkommen; so tun, als wäre nichts von alldem je geschehen, als hätte es das Feuer nie gegeben. Als wüssten wir nicht, was wir jetzt wissen, und als wäre nicht alles so total vermasselt.
«Ist schon gut.» Ich weiß nicht, ob ich das zu mir oder zu ihm sage.
Das ist mein Zuhause, das wunderschöne, entlegene Holzhaus, in das ich mich vor acht Monaten verliebt habe, aber auf einmal fühle ich mich hier ganz fremd, als sähe ich die Stufen zu unserer Veranda zum allerersten Mal. So viel hat sich in den letzten Stunden verändert. In meinem Kopf wirbelt alles durcheinander – alles, was ich gesehen, was ich überlebt habe, Kämpfe mit bösen Engeln, Waldbrände und die möglichen Folgen von dem, was ich getan habe. Christian lebt, steht
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