Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Ich wohne nicht weit weg.»
«Okay», sagt Tucker sichtlich verwirrt.
«Bis bald dann», sagt Christian, dreht uns beiden den Rücken zu und geht die Einfahrt hinunter in die Dunkelheit.
Ich ziehe Tucker ins Haus, damit er nicht sieht, wie Christian davonfliegt.
«Dann hast du ihn also auch noch aus dem Feuer rausgeflogen, ja?», fragt er, als ich die Tür geschlossen habe.
«Das ist eine lange Geschichte, und ich verstehe sie zum größten Teil noch nicht mal selbst. Und manches davon darf ich auch gar nicht erzählen.»
«Aber es ist jetzt überstanden? Ich meine, das Feuer ist überstanden. Du hast deine Aufgabe erledigt?»
Das Wort «Aufgabe» fährt noch immer wie ein Messer in mich hinein.
«Ja. Es ist überstanden.»
Und das ist die Wahrheit. Das Feuer ist überstanden. Meine Vision ist überstanden. Also wieso habe ich das Gefühl, dass ich ihn wieder anlüge?
«Danke, dass du mir heute das Leben gerettet hast», sagt Tucker.
«Ich konnte nicht anders», antworte ich in dem Versuch, komisch zu sein, aber wir lächeln beide nicht. Beide sagen wir nicht: Ich liebe dich, obwohl wir es beide möchten. Stattdessen biete ich an, ihn nach Hause zu bringen.
«Du fliegst mich nach Hause?», fragt er zögernd.
«Ich glaube, wir sollten das Auto nehmen.»
«Okay.»
Er beugt sich vor und will mir ganz wie ein Kavalier einen schnellen Kuss auf den Mund geben. Aber ich packe sein T-Shirt und halte es fest, presse ihm die Lippen auf den Mund und versuche, mit diesem einen Kuss alles auszudrücken, was ich fühle, alles, wovor ich immer noch Angst habe, meine ganze Liebe, die so groß ist, dass es fast weh tut. Er stöhnt und fährt mir mit den Händen durchs Haar und küsst mich leidenschaftlich, wobei er mich zurückdrängt, bis ich mit dem Rücken gegen die Haustür stoße. Ich zittere, aber ob seinetwegen oder meinetwegen weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn nie wieder gehen lassen will.
Hinter ihm räuspert sich meine Mutter. Tucker tritt einen Schritt zurück und ringt um Atem. Ich schaue in seine Augen und lächle.
«Hallo, Mama», sage ich. «Wie geht es dir?»
«Alles bestens mit mir, Clara», antwortet sie. «Und wie geht es dir?»
«Gut.» Ich drehe mich zu ihr um. «Ich wollte gerade Tucker nach Hause fahren.»
«Na schön», sagt sie. «Aber komm dann gleich wieder zurück.»
Anschließend, nachdem ich Tucker abgesetzt habe und wieder zurück bin, dusche ich. Ich stehe unter dem Wasserstrahl und drehe ihn so heiß auf, dass ich es gerade noch ertrage. Das Wasser läuft mir durchs Haar und übers Gesicht, und da erst kommen die Tränen, strömen aus mir heraus, bis sich die Schwere in meiner Brust etwas löst. Dann lasse ich meine Flügel erscheinen und wasche sorgfältig den Ruß heraus. Grau wirbelt mir das Wasser um die Füße. Ich rubbele die Federn ab, und sie werden sauber, wenn sie auch nicht mehr so weiß sind, wie sie vorher waren. Ich frage mich, ob sie wohl je wieder so hell und wunderschön sein werden.
Als kein heißes Wasser mehr kommt, trockne ich mich ab und lasse mir Zeit mit dem Kämmen. Ich mag mein Spiegelbild nicht ansehen. Erschöpft lege ich mich ins Bett, aber schlafen kann ich nicht. Schließlich versuche ich es auch gar nicht mehr, sondern gehe nach unten. Ich öffne den Kühlschrank und schaue hinein, bis mir klar wird, dass ich gar keinen Hunger habe. Ich versuche fernzusehen, habe aber eigentlich keine Lust dazu, und das Licht des flackernden Bildschirms wirft Schatten auf die Wand, die mich ängstigen, obwohl ich weiß, dass da nichts ist.
Ich glaube, nun fürchte ich mich auch im Dunkeln.
Ich gehe in Mamas Schlafzimmer. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass sie mich nach meiner Rückkehr würde ausfragen wollen, aber sie war schon im Bett, war schon wieder eingeschlafen. Ich betrachte sie einfach nur, wie sie da liegt, ich will ihr nahe sein, aber ich will sie nicht aufwecken. Durch die offen stehende Tür fällt vom Flur ein Lichtstrahl auf sie. Sie wirkt so zerbrechlich, so klein, wie sie da zusammengerollt im Bett liegt, den Arm über dem Kopf. Ich trete näher ans Bett und berühre ihre Schulter, und ihre Haut ist kühl. Sie runzelt die Stirn.
Geh weg , sagt sie. Ich gehe einen Schritt zurück, ich bin gekränkt. Ist sie sauer wegen dem, was heute passiert ist? Dass ich mich für Tucker entschieden habe?
Bitte , sagt sie. Ich kann nicht unterscheiden, ob sie laut spricht oder in meinem Kopf. Aber dann merke ich, dass sie überhaupt nicht
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