Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
runternimmt.
«Nein, ich hab mich nur gestreckt», sagt sie lässig und sieht mich mit ernsten bernsteinfarbenen Augen an. «Aber das mit den Vögeln gefällt mir. Das ist lustig.»
Allerdings lacht diesmal keiner. Sie starren mich an. Ich schlucke.
«Okay, noch eines, stimmt’s?», frage ich mit leiser Verzweiflung. «Meine Mutter ist Programmiererin, und mein Vater ist Physikprofessor an der Uni in New York. Und das bedeutet wahrscheinlich, dass ich gut in Mathe sein sollte.» Ich verziehe das Gesicht. Die Behauptung, dass ich nicht gut in Mathe wäre, ist natürlich Blödsinn. Mathematik ist schließlich auch nur eine Sprache, und deshalb begreift meine Mutter, wie Computer miteinander kommunizieren, ohne sich anstrengen zu müssen. Und deshalb fühlte sie sich wahrscheinlich auch zu meinem Vater hingezogen, der eine Art menschliche Rechenmaschine ist, auch ohne einen einzigen Tropfen Engelblut in den Adern. Jeffrey und ich finden Mathe lächerlich einfach.
Auch jetzt lacht keiner, nur von Wendy kommt ein mitleidiges Glucksen. Vielleicht sollte ich doch keine Karriere als Alleinunterhalter anstreben.
«Danke, Clara», sagt Mr Phibbs.
Die letzte Schülerin, die ihre drei einzigartigen Dinge nennen soll, ist das schwarzhaarige Mädchen, das mich so aufmerksam ansah, als ich die merkwürdige Sache mit den Vögeln erzählt hatte. Angela Zerbino sei ihr Name, sagt sie. Sie steckt sich die zur Seite hängenden Ponyfransen hinters Ohr und rattert ihre drei einzigartigen Dinge runter.
«Meiner Mutter gehört das Pink Garter . Ich kenne meinen Vater nicht. Und ich schreibe Gedichte.»
Wieder peinlich berührtes Schweigen. Sie sieht sich im Kreis um, beinahe so, als würde sie gern jemanden auffordern, ihr zu widersprechen. Keiner schaut ihr in die Augen.
«Schön», sagt Mr Phibbs und räuspert sich. Er blättert in seinen Notizen. «Jetzt kennen wir uns schon etwas besser. Aber wie lernen sich Menschen eigentlich wirklich kennen? Helfen uns dabei Fakten, die Details, mit denen wir uns von den übrigen sechseinhalb Milliarden Menschen auf diesem Planeten unterscheiden? Ist es unser Gehirn, das uns einzigartig macht, die Art, wie jeder Mensch ähnlich einem Computer programmiert wurde, mit einer jeweils eigenen Kombination der Software, bestehend aus Erinnerungen, Gewohnheiten und genetischen Gegebenheiten? Ist es, was wir tun; sind es unsere Handlungen? Wie wäre wohl Ihre Aufzählung ausgefallen, hätte ich Sie gebeten, mir die drei in Ihrem bisherigen Leben bedeutsamsten Handlungen zu nennen?»
Vor meinem geistigen Auge sehe ich aufloderndes Feuer.
«In diesem Frühjahr werden wir viel darüber reden, was es heißt, einzigartig zu sein», fährt Mr Phibbs fort. Er steht auf und humpelt zu einem kleinen Tisch ganz hinten im Raum, von dem er einen Stapel Bücher aufnimmt. Er macht sich daran, sie zu verteilen.
«Unser erstes Buch in diesem Halbjahr», sagt er.
Frankenstein .
«Huh, das Monster lebt!», sagt der Typ mit der rosa Lady auf dem Snowboard und hält sein Buch hoch wie in der Erwartung, dass es gleich vom Blitz getroffen wird. Kay Patterson verdreht die Augen.
«Ah, Sie haben Dr. Frankenstein gleich einen Platz zugewiesen.» Mr Phibbs dreht sich zur weißen Wandtafel um und schreibt mit schwarzem Marker den Namen «Mary Shelley» an, dazu die Jahreszahl «1817». «Das Buch wurde von einer Frau geschrieben, die damals nicht viel älter war, als Sie es heute sind. Es ging ihr dabei um den Kampf zwischen Wissenschaft und Natur.»
Er beginnt mit einem Vortrag über Jean-Jacques Rousseau und seinen Einfluss auf Kunst und Literatur zu der Zeit, als Mary Shelley ihren Roman schrieb. Ich gebe mir Mühe, Kay Patterson nicht anzustarren. Was mag sie für ein Mädchen sein?, überlege ich; wie konnte sie sich einen Jungen wie Christian angeln? Und weil ich von Christian schließlich nichts anderes kenne als seinen Hinterkopf und nichts anderes von ihm weiß, als dass er gern Mädchen zu Hilfe kommt, die auf dem Schulkorridor in Ohnmacht fallen, denke ich darüber nach, was für ein Junge Christian wohl ist.
Ich merke, dass ich auf dem Radiergummiende meines Bleistifts herumkaue, und lege den Bleistift hin.
«Mary Shelley wollte erkunden, was das eigentlich Menschliche an uns ist», beschließt Mr Phibbs seinen Vortrag. Er schaut zu mir herüber und sieht mir in die Augen, als wüsste er genau, dass ich kein Wort von dem gehört habe, was er in den vergangenen zehn Minuten gesagt hat; dann schaut er
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