Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Regeln des Lebens und des Sterbens für uns nicht gelten.
Trotzdem erscheint mir Christians schnelles Ableben als böses Omen.
Als wir nach Hause kommen, wartet Mama schon an der Haustür auf uns.
«Erzähl mir alles», verlangt sie, kaum dass ich über die Schwelle getreten bin. «Ich will sämtliche Einzelheiten wissen. Geht er auf deine Schule? Hast du ihn gesehen?»
«Oh, gesehen hat sie ihn», sagt Jeffrey, noch bevor ich antworten kann. «Sie hat ihn gesehen und ist mitten auf dem Schulkorridor in Ohnmacht gefallen. Die ganze Schule hat darüber geredet.»
Sie reißt die Augen auf und dreht sich zu mir um. Ich zucke mit den Schultern.
«Ich hab dir doch gesagt, dass sie ohnmächtig wird», meint Jeffrey.
«Du bist ein Genie.» Mama streckt die Hand aus, um ihm das Haar zu zerzausen, aber er duckt sich, weicht ihr aus und sagt: «Zu schnell für dich», bevor sie an ihn herankommt. «Ich hab dir in der Küche ein paar Chips mit Salsa hingestellt.»
«Was ist passiert?», fragt sie, als Jeffrey in der Küche verschwindet, um sich vollzustopfen.
«Genau das, was Jeffrey gesagt hat. Ich bin einfach vor aller Augen umgekippt.»
«Ach, Herzchen.» Sie sieht mich mitleidig an.
«Als ich dann wieder zu mir kam, war da ein Mädchen, das mir geholfen hat. Ich glaube, sie könnte eine Freundin werden. Und dann …» Ich schlucke. «Dann kam er mit der Schulkrankenschwester und hat mich ins Krankenzimmer getragen.»
Der Mund bleibt ihr offen stehen. So verblüfft habe ich sie noch nie gesehen. «Er hat dich getragen?»
«Ja, wie eine aus höchster Not errettete Jungfrau.»
Sie lacht. Ich seufze.
«Hast du ihr schon gesagt, wie er heißt?», fragt Jeffrey von der Küche her.
«Halt den Mund», rufe ich.
«Er heißt Christian», ruft er zurück. «Hast du dafür Töne? Wir sind den ganzen weiten Weg hierhergekommen, bloß damit Clara ausgerechnet einen Typen namens Christian retten kann.»
«Die Ironie ist mir durchaus bewusst.»
«Aber jetzt weißt du, wie er heißt», sagt Mama leise.
«Ja.» Ich muss nun doch lächeln. «Ich weiß, wie er heißt.»
«Und es geschieht. Alles fügt sich zusammen.» Jetzt wird sie ernst. «Bist du auch bereit dafür, Kleines?»
Seit Wochen denke ich an nichts anderes, und seit zwei Jahren weiß ich, dass dieser Moment für mich kommen wird. Aber dennoch: Bin ich wirklich bereit dafür?
«Ich glaube schon, oder?», sage ich.
Ich hoffe es.
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Flügelspannweite
Ich war vierzehn, als Mama mir von den Engeln erzählte. Eines Morgens beim Frühstück kündigte sie an, dass ich an diesem Tag nicht in die Schule gehen würde und sie einen Mutter-Tochter-Ausflug machen wolle, nur wir zwei. Wir haben Jeffrey bei der Schule abgesetzt und sind in den Big Basin Redwoods State Park in den Bergen in der Nähe des Meeres gefahren, etwa dreißig Meilen von unserem Haus in Mountain View entfernt. Meine Mutter parkte auf dem großen Parkplatz, schulterte einen Rucksack und sagte: «Wer als Letzter oben ist, ist eine lahme Ente.» Dann schritt sie zügig den befestigten Pfad hinauf. Ich musste praktisch joggen, um Schritt mit ihr zu halten.
«Hättest du nicht wie andere Mütter mit mir zum Ohrläppchen-Durchstechen gehen können?», rief ich ihr nach. Außer uns war keine Menschenseele auf dem Pfad. Nebel zog durch die Bäume. Manche von ihnen hatten einen Durchmesser von bis zu sechs Metern und waren so hoch, dass man nicht erkennen konnte, wo sie aufhörten; zu sehen waren nur die kleinen Lücken zwischen den Ästen, durch die Lichtstrahlen auf den Waldboden fielen.
«Wo gehen wir hin?», fragte ich außer Atem.
«Buzzards Roost», antwortete Mama über die Schulter zurück. Als wenn das eine Hilfe gewesen wäre.
Wir wanderten an verlassenen Campingplätzen vorbei, sprangen über Bäche, duckten uns unter riesigen moosbewachsenen Baumstämmen, die quer über dem Pfad lagen. Mama sagte kein Wort. Es war keiner von diesen Mutter-Tochter-Ausflügen, wenn sie mit mir zu Fisherman’s Wharf fuhr oder ins Winchester Mystery House oder zu Ikea. Die Stille des Waldes wurde nur durch unser Atmen und das Geräusch unserer Schritte auf dem Pfad durchbrochen; es war ein so drückendes, lähmendes Schweigen, dass ich am liebsten gebrüllt hätte, nur um es zu beenden.
Sie redete erst wieder, als wir eine gigantische Felsnase erreichten, die wie ein steinerner, in den Himmel weisender Finger aus dem Berg ragte. Um hinaufzukommen, mussten wir über etwa sechs Meter
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