Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
mit mir dahin gefahren?» Wir waren oft in San Francisco gewesen, mindestens zwei- oder dreimal im Jahr, aber von einem Haus in der Mason Street hatte sie nie ein Wort gesagt.
«Das Haus ist vor vielen Jahren abgebrannt», erklärte sie. «An der Stelle steht jetzt ein Souvenirladen, glaube ich. Na, jedenfalls bin ich eines Morgens in aller Frühe aufgewacht, weil das Haus heftig schwankte. Ich musste mich am Bettpfosten festhalten, sonst wäre ich aus dem Bett geflogen.»
«Ein Erdbeben», schloss ich. Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, deshalb habe ich schon einige Erdbeben miterlebt, zwar keines, das länger als ein paar Sekunden gedauert oder ernsthafte Schäden angerichtet hätte, aber ziemlich beängstigend waren sie trotzdem.
Mama nickte. «Ich hörte, wie die Teller aus dem Geschirrschrank fielen und überall im Haus die Fensterscheiben zu Bruch gingen. Dann gab es ein lautes, ächzendes Geräusch. Die Wand von meinem Schlafzimmer gab nach, und die Ziegel aus dem Schornstein knallten auf mein Bett.»
Erschrocken starrte ich sie an.
«Ich habe keine Ahnung, wie lange ich da lag», fuhr Mama nach einer Weile fort. «Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich über mir die Gestalt eines Mannes. Er beugte sich zu mir runter und sagte: ‹Ganz ruhig, Kind.› Dann hob er mich hoch, und die Ziegelsteine glitten von meinem Körper, als wären sie federleicht. Er trug mich zum Fenster. Die Scheiben waren herausgebrochen, und ich sah Leute aus ihren Häusern auf die Straße rennen. Und dann passierte etwas Seltsames, wir waren auf einmal an einem anderen Ort. Der Raum sah immer noch aus wie mein Zimmer, doch irgendwie anders, so als lebte jemand anderes dort, und alles war unbeschädigt, als hätte es nie ein Erdbeben gegeben. Draußen vor dem Fenster war so viel Licht, so hell, dass es in den Augen weh tat.»
«Was ist dann passiert?»
«Der Mann setzte mich ab. Ich wunderte mich, dass ich überhaupt stehen konnte. Mein Nachthemd war völlig verschmutzt und zerfetzt, und mir war ein bisschen schwindlig, aber sonst ging es mir gut.
‹Danke›, sagte ich zu dem Mann. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen. Er hatte goldenes Haar, das in dem Licht schimmerte, wie ich es noch nie gesehen hatte. Und er war groß, der größte Mann, dem ich je begegnet war, und sehr attraktiv.»
Bei dem Gedanken daran musste sie lächeln. Ich rieb mir die Gänsehaut, die ich überall auf den Armen bekommen hatte. Ich versuchte, mir diesen großen, gutaussehenden Mann mit dem glänzenden blonden Haar vorzustellen, und vor meinem geistigen Auge sah ich so jemanden wie Brad Pitt, der zur Rettung meiner Mutter herbeigeeilt war. Ich runzelte die Stirn. Irgendwie war mir unbehaglich zumute bei dieser Vorstellung, ohne dass ich hätte sagen können, was mich daran so sehr irritierte.
«Er sagte: ‹Nichts zu danken, Margaret›», erzählte meine Mutter.
«Woher wusste er denn deinen Namen?»
«Darüber habe ich mich auch gewundert. Also fragte ich ihn. Er erzählte mir, er sei ein Freund meines Vaters. Sie seien zusammen bei der Armee gewesen, meinte er. Und weiter erklärte er, er habe mich seit dem Tag meiner Geburt beobachtet.»
«Oh. Wie dein ganz persönlicher Schutzengel.»
«Genau. Wie mein Schutzengel», sagte Mama und nickte. «Obwohl er das von sich selbst natürlich nie gesagt hätte.»
Ich wartete darauf, dass sie weitersprach.
«Aber genau das war er, Clara. Ich will, dass du das verstehst. Er war ein Engel.»
«Klar», antwortete ich. «Ein Engel. Bestimmt eines von diesen Wesen mit Flügeln und so.»
«Ja, auch wenn ich seine Flügel erst später zu sehen bekommen habe.»
Sie wirkte total ernst.
«Mhm», sagte ich. Ich stellte mir den Engel auf dem Buntglasfenster in der Kirche vor, mit Heiligenschein und purpurfarbener Robe und riesigen goldenen Flügeln am Rücken. «Und was war dann?»
Noch verrückter kann es ja kaum werden, dachte ich mir.
Doch das wurde es.
«Er erklärte mir, dass ich etwas Besonderes sei», sagte sie.
«Inwiefern besonders?»
«Er meinte, mein Vater sei ein Engel und meine Mutter menschlich gewesen, und ich sei Dimidius : halb.»
Ich lachte. Ich konnte nicht anders. «Ach, komm schon. Du machst Witze, oder?»
«Nein.» Sie blickte mir unverwandt in die Augen. «Das ist kein Witz, Clara. Es ist die Wahrheit.»
Ich starrte sie an. Sie war der Mensch, dem ich vertraute, mehr als jedem anderen auf der Welt. Und soweit ich wusste, hatte sie mich noch nie angelogen,
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