Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
sich nicht mal dieser kleinen Notlügen bedient, mit denen viele Eltern ihre Kinder dazu bringen, sich zu benehmen oder an die Zahnfee zu glauben oder so was. Sie war meine Mutter, klar, aber sie war auch meine beste Freundin. Komisch, aber wahr. Und jetzt erzählte sie mir etwas komplett Verrücktes, etwas total Unmögliches, und nun schaute sie mich an, als hinge alles Weitere von meiner Reaktion ab.
«Du sagst also … du sagst also, du bist ein halber Engel», fragte ich gedehnt.
«Ja.»
«Komm schon, Mama, wirklich.» Sie sollte lachen und mir gestehen, dass dieses Engelszeug irgendein Traum von ihr gewesen ist, wie in Der Zauberer von Oz , wo die kleine Dorothy aufwacht und feststellt, dass die ganze Geschichte eine gigantische, farbenprächtige Halluzination war, die von einem Schlag auf den Kopf herrührte. «Und was ist dann weiter passiert?»
«Er brachte mich zurück auf die Erde. Dort half er mir, meine Großmutter zu finden, die zu dem Zeitpunkt völlig hysterisch war, weil sie meinte, ich wäre von den Trümmern erschlagen worden. Und als die Brände in unserer Gegend wüteten, half er uns in den Golden Gate Park. Drei Tage blieb er bei uns, und dann habe ich ihn erst Jahre später wiedergesehen.»
Ich schwieg, denn einige Details in ihrer Geschichte irritierten mich. Ein Jahr zuvor etwa hatten wir einen Klassenausflug nach San Francisco gemacht und ein neu eröffnetes Museum mit einer Ausstellung zum großen Erdbeben von San Francisco besucht. Dort hatten wir dann die ganzen Fotos gesehen, von zusammengebrochenen Häusern, von den aus den Gleisen gesprungenen Cable Cars, von den verkohlten Skeletten aus den abgebrannten Häusern. Wir hatten uns Aufnahmen von Leuten angehört, die damals dabei waren und mit zittriger und gleichzeitig schriller Stimme die furchtbare Katastrophe beschrieben.
Alle Welt sprach in dem Jahr darüber, denn seit dem Erdbeben waren genau hundert Jahre vergangen.
«Du hast gesagt, da waren Brände?», fragte ich.
«Furchtbare Brände. Das Haus meiner Großmutter brannte restlos nieder.»
«Und wann war das?»
«Das war im April», antwortete sie. «1906.»
Ich hatte ein Gefühl, als müsste ich mich jeden Moment übergeben. «Dann wärst du ja, warte mal, einhundertzehn Jahre alt.»
«Hundertsechzehn werde ich dieses Jahr.»
«Das glaube ich dir nicht», stammelte ich.
«Ich weiß, das ist nicht einfach.»
Ich stand auf. Mama griff nach meiner Hand, aber ich riss mich los. Sie war gekränkt, das sah ich an ihrem Blick. Sie erhob sich ebenfalls und machte einen Schritt nach hinten, um mir ein wenig Platz zu geben, dabei nickte sie leicht, als verstehe sie voll und ganz, was ich gerade durchmachte. Als wisse sie ganz genau, dass sie dabei war, etwas zu zerstören.
Ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft in die Lungen zu bekommen.
Sie war verrückt. Das war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab. Meine Mutter, die mir bis dahin als die beste von allen Müttern erschienen war, meine ureigene Version der Gilmore Girls , meine Mutter mit dem wunderschönen rostroten Haar und der herrlich taufrischen Haut und dem schrägen Sinn für Humor, meine Mutter, um die mich alle meine Freunde und Freundinnen beneideten, war in Wirklichkeit total verrückt, eine Wahnsinnige.
«Was soll denn das? Wieso erzählst du mir so was?», fragte ich und blinzelte, um die Tränen der Wut zu unterdrücken.
«Weil du wissen musst, dass du auch etwas Besonderes bist.»
Ungläubig starrte ich sie an.
«Ich bin auch etwas Besonderes», wiederholte ich. «Weil du ein Halbengel bist? Und was bin dann ich? Ein Viertelengel?»
«Viertelengel nennt man Quartarius .»
«Ich will jetzt nach Hause», sagte ich matt. Ich musste meinen Vater anrufen. Der würde vielleicht wissen, was zu tun war. Ich musste Hilfe für meine Mutter finden.
«Ich hätte das auch nicht geglaubt», sagte sie. «Nicht ohne einen Beweis.»
Zuerst dachte ich, die Sonne wäre hinter den Wolken hervorgekommen und erhellte plötzlich den Felsvorsprung, auf dem wir standen und in die Landschaft schauten, aber dann, ganz langsam, begriff ich, dass dieses Licht stärker war. Ich drehte mich um und schützte meine Augen vor dem Anblick meiner Mutter und dem aus ihr herausstrahlenden Licht. Es war ein Gefühl, als blickte ich direkt in die Sonne, so intensiv, dass mir die Augen tränten. Dann verblasste ihr Leuchten ein wenig, und ich sah, dass sie Flügel hatte – riesige schneeweiße Flügel, die sich hinter ihr
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