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Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Titel: Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cynthia Hand
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hab nie sonderlich viel darüber nachgedacht. Wenn überhaupt, hatte ich angenommen, dass ich in manchem besser war, weil ich nicht allzu viel Zeit vor dem Fernseher verbrachte. Oder weil Mama eine von den Müttern war, die ihr Kind zum Üben und Lernen und Bücherlesen anhielten.
    Auf einmal wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Alles passte plötzlich zusammen. Und fiel gleichzeitig auseinander.
    Mama lächelte. «So oft tun wir nur das, was unserer Meinung nach von uns erwartet wird», sagte sie. «Dabei können wir sehr viel mehr leisten.»
    In dem Moment wurde mir dann so schwindlig, dass ich mich setzen musste. Und Mama hatte wieder angefangen zu reden, mir die Grundlagen zu erklären. Flügel: abgehakt. Stärker, schneller, klüger: abgehakt. Viel mehr leisten können. Das Thema Sprachen. Und dass es ein paar Regeln gab: Erzähl Jeffrey nichts – er ist noch nicht alt genug. Erzähl den Menschen nichts – sie werden es nicht glauben, und wenn doch, werden sie nicht damit umgehen können. In meinem Nacken kribbelte es immer noch, wenn ich daran dachte, wie sie «Menschen» gesagt hatte, als gelte das Wort plötzlich für uns nicht mehr. Dann hatte sie über Aufgaben gesprochen und darüber, dass ich bald schon meine eigene erhalten würde. Es sei wichtig, hatte sie gesagt, aber es sei für sie nicht einfach zu erklären. Danach hatte sie geschwiegen und keine meiner Fragen beantwortet. Es gebe Dinge, hatte sie gesagt, die ich im Laufe der Zeit selbst herausfinden müsse. Durch Erfahrung. Und dann gebe es noch andere Dinge, über die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht Bescheid zu wissen brauche.
    «Wieso hast du mir das nicht schon viel früher erzählt?», fragte ich sie.
    «Weil ich wollte, dass du so lange wie möglich ein ganz normales Leben führst», hatte sie geantwortet. «Ich wollte, dass du ein ganz normales Mädchen bist.»
    Jetzt würde ich nie wieder normal sein. So viel war schon mal klar.
    Ich betrachtete mich im Badezimmerspiegel. «Na schön», sagte ich. «Zeig mir … die Flügel!»
    Nichts.
    «Schneller als eine davonsausende Kugel!», verkündete ich dem Spiegelbild und warf mich in meine beste Superman-Pose. Dann verblasste mein Lächeln im Spiegel, und das Mädchen auf der anderen Seite starrte skeptisch zu mir zurück.
    «Ach, komm schon», sagte ich und breitete die Arme aus. Ich ließ die Schultern nach vorn fallen, sodass meine Schulterblätter herausragten, dann kniff ich die Augen zusammen und dachte intensiv an Flügel. Ich stellte mir vor, wie sie aus mir herausbrachen, wie sie die Haut durchstachen, wie sie sich hinter mir ausbreiteten so wie bei Mama auf dem Felsvorsprung. Ich öffnete die Augen.
    Immer noch keine Flügel.
    Ich seufzte und warf mich aufs Bett, löschte das Licht. An der Decke hatte ich Sterne aufgeklebt, die im Dunkeln leuchteten, was mir jetzt so albern vorkam, so kindisch. Ich schaute auf meinen Wecker. Es war nach Mitternacht. Am Morgen musste ich in die Schule. Ich musste einen Rechtschreibtest nachholen, den ich an diesem Tag in der dritten Stunde versäumt hatte, was mir jetzt nur noch lächerlich erschien.
    «Quartarius», sagte ich, Mamas Wort für einen Viertelengel.
    Q-U-A-R-T-A-R-I-U-S. Clara ist ein Quartarius.
    Ich dachte an Mamas seltsame Sprache. Engellisch, hatte sie sie genannt. So unheimlich und wunderschön wie die Klänge eines Lieds.
    «Zeig mir meine Flügel», sagte ich.
    Diesmal klang meine Stimme seltsam, meine Worte schienen in höheren und tieferen Echos widerzuhallen. Ich sog die Luft ein.
    Ich beherrschte die Sprache.
    Und dann spürte ich meine Flügel unter mir; sie hoben mich leicht an, der eine unter dem anderen gefaltet. Sie reichten mir beinahe bis zu den Fersen, und schimmerten sogar im Dunkeln weiß.
    «Heilige Scheiße!», rief ich, dann hielt ich mir schnell den Mund zu.
    Ganz langsam, vor lauter Angst, die Flügel könnten wieder verschwinden, stand ich auf und machte das Licht an. Dann stellte ich mich vor den Spiegel und betrachtete zum ersten Mal meine Flügel. Sie waren echt – echte Flügel mit echten Federn, schwer und kitzlig und definitiv der Beweis dafür, dass das, was meine Mutter vor ein paar Stunden erzählt hatte, kein Scherz war. Sie waren so wunderschön, dass mir das Herz ganz eng wurde, wenn ich sie nur betrachtete.
    Sacht berührte ich sie. Sie waren warm, lebendig. Ich konnte sie bewegen, fand ich heraus, genau so wie ich meine Arme bewegen konnte. Als wären sie wirklich ein Teil von mir,

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