Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
entfalteten.
«Das ist die Herrlichkeit des Himmels», erklärte sie, und ich verstand die Worte, die sie sagte, obwohl sie nicht Englisch sprach, sondern eine fremde Sprache, bei der jede Silbe klang, als würden auf ihr zwei Noten gespielt, so unheimlich und so fremd, dass mir die Haare im Nacken zu Berge standen.
«Mama», keuchte ich hilflos.
Ihre Flügel breiteten sich aus, als wollten sie die Luft einfangen, und stießen einmal nach unten. Das Geräusch, das aus ihnen kam, war wie ein einzelner Herzschlag tief in der Erde. Die schiere Kraft blies mir das Haar nach hinten. Langsam hob sie vom Boden ab, unendlich anmutig und leicht, immer noch von diesem Leuchten umgeben. Dann schoss sie plötzlich über die Baumwipfel hinaus, richtete sich ganz auf und flog schnell auf das Tal zu, bis sie nur noch ein heller Fleck am Horizont war. Ich blieb verblüfft und allein zurück, der Felsvorsprung war leer und still, viel dunkler jetzt, da sie nicht mehr da war, um ihn zu erhellen.
«Mama!», rief ich.
Ich sah sie umdrehen und zu mir zurückgleiten, langsamer diesmal. Sie flog heran, genau zu der Stelle, an der der Berg in die Tiefe fiel, schwebte dort und trat sacht die Luft.
«Ich denke, ich glaube dir», sagte ich.
Ihre Augen funkelten.
Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht aufhören zu weinen.
«Schätzchen», sagte sie, «es wird alles wieder gut.»
«Du bist ein Engel», keuchte ich unter Tränen. «Und das heißt, dass ich …»
Ich brachte die Worte einfach nicht heraus.
Sie nickte. «Das bedeutet, dass auch du Engelblut in dir hast.»
In der folgenden Nacht stand ich in meinem Schlafzimmer, die Tür hatte ich abgeschlossen, und versuchte, mit schierer Willenskraft meine Flügel zum Vorschein zu bringen. Mama hatte mir versichert, dass ich sie, zu gegebener Zeit, erscheinen lassen und sie sogar zum Fliegen benutzen könnte. Doch dazu fehlte mir die Vorstellungskraft. Es war zu verrückt. Ich stand in Unterwäsche vor dem bodenlangen Spiegel und dachte an die Models in der Engelwerbung von Victoria’s Secret und daran, wie sexy die mit ihren Flügeln aussahen. Aber meine Flügel zeigten sich nicht. Ich wollte lachen, weil mir das Ganze so lächerlich vorkam. Ich und Flügel, die aus meinen Schulterblättern hervorsprießen. Ich und ein Engel.
Dass meine Mutter ein halber Engel ist, ergibt irgendwie einen Sinn – eine Art übernatürliches Wesen jedenfalls. Immer schon ist sie mir verdächtig schön erschienen. Im Gegensatz zu mir mit meinem grüblerischen Dickkopf, meiner Launenhaftigkeit und meinem Sarkasmus war sie immer so beschwingt und ausgeglichen. Perfekt bis zu einem Punkt, an dem es schon ärgerlich wurde. Nie fand man auch nur einen einzigen Makel an ihr.
Außer natürlich, dass sie mich mein ganzes Leben lang angelogen hat, dachte ich, indem ich mir einen Anflug von Bitterkeit erlaubte. Sollte es nicht überhaupt eine Art Regel geben, die besagt, dass Engel nicht lügen dürfen?
Nur, gelogen hatte sie ja im Grunde nicht. Nicht ein einziges Mal hatte sie zu mir gesagt: «Weißt du was? Du bist kein bisschen anders als andere Leute.» Tatsächlich hatte sie mir immer genau das Gegenteil gesagt. Immer wieder hatte sie behauptet, ich sei etwas Besonderes. Nur hatte ich ihr bis zu diesem Moment nicht geglaubt.
«Du kannst vieles besser als andere», sagte sie zu mir, als wir oben auf Buzzards Roost standen. «Du bist stärker, schneller, klüger. Ist dir das noch nicht aufgefallen?»
«Ähm, nein», entgegnete ich schnell.
Aber das stimmte nicht. Ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass ich anders war als andere. Mama hat ein Video von mir, auf dem ich mit sieben Monaten schon laufe. Als ich drei war, habe ich lesen gelernt. Wenn es um Multiplikationstabellen und das Aufsagen der fünfzig Bundesstaaten und derartige Dinge ging, war ich in meiner Klasse immer die Beste. Dazu kam, dass ich gut im Sport war. Ich war immer schon schnell und beweglich gewesen. Ich konnte hoch springen und weit werfen. Wenn wir im Sportunterricht Wettkämpfe machten, wollten mich immer alle in ihrem Team haben.
Trotzdem war ich nicht so was wie ein Wunderkind. Auf keinem Gebiet hatte ich irgendwelche weit herausragenden Fähigkeiten. Als Kleinkind konnte ich nicht Golf spielen wie Tiger Woods, habe nicht im Alter von fünf Sinfonien komponiert oder Schachwettbewerbe gewonnen. Es war nur einfach so, dass mir alles ein bisschen leichter fiel als anderen Kindern. Klar ist mir das aufgefallen, aber ich
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