Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
1900?»
Sie gießt sich noch etwas Tee ein. «‹Kürbiskopf› wurde ich oft genannt. ‹Kleines Waisenmädchen Annie› war auch sehr beliebt, denn die rührselige Geschichte von der kleinen Waise war damals ein sehr bekanntes Gedicht. Und ‹Maggot› haben sie mir hinterhergerufen. Du weißt schon, dieser rotgesichtige Hobbit aus dem Auenland. ‹Maggot›, den Spitznamen habe ich gehasst.»
Ich kann sie mir nur schwer als Kind vorstellen, erst recht nicht als Kind, das von anderen Kindern gehänselt wird. Jetzt fühle ich mich schon ein bisschen (allerdings nur ein bisschen) besser; der Spitzname Bozo tut nicht mehr ganz so weh.
«Okay, und was haben die sonst noch so zu dir gesagt?»
«Warte mal. ‹Karotte›. Das kam auch ziemlich häufig vor.»
«So hat mich auch schon mal einer genannt», gestehe ich ihr.
«Oh, oh – Pippi Langstrumpf.»
«Ach, hör auf», sage ich lachend. «Jetzt fehlt bloß noch Streichholzkopf!»
Und so geht es weiter, immer hin und her, bis wir beide nur noch hysterisch lachen und Jeffrey in der Tür erscheint und uns anfunkelt.
«Tut mir leid», sagt Mama und kichert immer noch ungehemmt. «Haben wir dich geweckt?»
«Nein. Ich hab Ringen.» Er fegt an uns vorbei zum Kühlschrank, holt einen Tetrapak Orangensaft raus, gießt sich ein Glas ein, trinkt es in drei Zügen leer und setzt es auf der Küchentheke ab, an der wir immer noch versuchen, uns wieder einzukriegen.
Ich kann es nicht lassen. Ich drehe mich zu Mama um: «Bist du etwa eine von den Weasleys?», frage ich. Die Harry-Potter-Lektüre hat Früchte getragen.
«Guter Gag, Tomate», schießt sie zurück.
«Was soll das denn jetzt heißen? Ich und Tomate. Du siehst doch aus, als hättest du zu viele Tomaten gegessen.»
Und schon wieder lachen wir kreischend los wie zwei Hyänen.
«Ihr zwei solltet mal einen Koffeinentzug in Erwägung ziehen. Und vergiss nicht, Clara, in ungefähr zwanzig Minuten musst du mich zum Training fahren», sagt Jeffrey.
«Du hast es erfasst, Brüderchen.»
Er geht nach oben. Unser Gelächter ebbt schließlich ab. Ich reibe mir die Augen. Und habe Seitenstechen.
«Du bist echt der Hit, weißt du das?», sage ich zu Mama.
«Das hat Spaß gemacht», erwidert sie. «Es ist schon so lange her, dass ich derart herzhaft gelacht habe.»
Dann schweigen wir eine Weile.
«Wie ist Christian eigentlich so?», fragt sie ganz beiläufig, als wolle sie nur ein bisschen Smalltalk machen. «Ich weiß, er ist anbetungswürdig und hat offenbar einen Heldenkomplex, aber wie ist er wirklich? Das hast du mir noch gar nicht erzählt.»
Ich werde rot.
«Ich weiß nicht.» Verlegen zucke ich mit den Schultern. «Er ist irgendwie rätselhaft, und ich habe das Gefühl, dass es meine Aufgabe ist, dieses Rätsel zu lösen. Sogar sein T-Shirt heute war wie ein Geheimcode. Der Aufdruck lautete: ‹Was ist dein Zeichen?› und darunter ein schwarzes Karo, ein blaues Quadrat und ein grüner Kreis. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.»
«Hmm», sagt Mama. «Das ist wirklich rätselhaft.»
Schnell verschwindet sie in ihrem Arbeitszimmer, wo sie ein paar Minuten bleibt, dann taucht sie lächelnd und mit einem Blatt Papier wieder auf, mit etwas, das sie aus dem Internet ausgedruckt hat. Meine einhundert Jahre alte Mutter googelt wie ein Weltmeister.
«Skifahren», verkündet sie triumphierend. «Die Symbole findet man auf Schildern am oberen Ende von Skipisten, und sie zeigen den Schwierigkeitsgrad der Abfahrt an. Schwarzes Karo bedeutet schwer, blaues Quadrat mittelschwer und grüner Kreis kennzeichnet die einfache. Er ist Skifahrer.»
«Skifahrer», wiederhole ich. «Siehst du? Nicht mal das habe ich gewusst. Ich meine, ich weiß, dass er Linkshänder ist und dass er Obsession benutzt und dass er auf die Ränder seines Notizblocks kritzelt, wenn er sich im Unterricht langweilt. Aber ich kenne ihn nicht. Und er kennt mich kein bisschen.»
«Das wird sich ändern», sagt sie.
«Ach, tatsächlich? Warum soll ich ihn überhaupt kennenlernen? Oder ihn retten? Ich frage mich andauernd, wieso. Wieso ihn? Ich meine, Leute sterben bei Waldbränden. Vielleicht nicht gerade viele Leute, aber bestimmt einige pro Jahr. Also wieso werde ich hierhergeschickt, um ihn zu retten? Und was, wenn ich das gar nicht kann? Was ist dann?»
«Hör mir mal zu, Clara.» Mama beugt sich vor und ergreift meine Hände. Ihre Augen leuchten nicht mehr. Die Pupillen sind so dunkel, dass sie beinahe lila wirken. «Du wirst nicht
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