Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
mit der Ghettofaust oder mit dem Schulteranrempeln. Die Mädchen umarmen ihn und begrüßen ihn leise und mustern mich mit neugierigen, aber freundlichen Blicken.
Als Tucker in die Küche geht, um mir etwas zu trinken zu holen, nimmt mich Ava Peters beim Arm.
«Wie lange gehst du jetzt schon mit Tucker?», fragt sie und lächelt verschmitzt.
«Wir sind bloß Freunde», stottere ich.
«Oh.» Sie runzelt leicht die Stirn. «Tut mir leid, ich dachte …»
«Was hast du gedacht?», fragt Tucker, der plötzlich mit zwei roten Plastikbechern in den Händen neben mir steht.
«Ich dachte, ihr zwei wärt ein Paar», erklärt Ava.
«Wir sind bloß Freunde», sagt er. Kurz begegnen sich unsere Blicke, dann reicht er mir einen der Becher.
«Was ist das?»
«Rum-Cola. Ich hoffe, du magst Kokosnuss-Rum.»
Rum habe ich noch nie getrunken. Und auch keinen Tequila oder Whiskey oder so etwas, höchstens mal ein Schlückchen Wein bei einem schicken Dinner. Meine Mutter steht immer noch unter dem Eindruck der Zeit der Prohibition. Aber im Moment ist sie etwa tausend Meilen weit weg, schläft wahrscheinlich tief und fest in ihrem Hotelzimmer in Mountain View und hat nicht den Schatten einer Ahnung, dass ihre Tochter auf einer Teenieparty ohne Aufsicht von Erwachsenen ist und gerade ihr erstes Glas richtigen Alkohol in der Hand hält.
Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Prost.
Ich nehme einen Schluck. Allerdings schmecke ich nicht das kleinste bisschen Kokosnuss heraus; Alkohol auch nicht. Es schmeckt genau wie ganz normale Coca-Cola.
«Schmeckt gut, danke», sage ich.
«Nette Party, Ava», meint Tucker. «Du hast wirklich alle Register gezogen.»
«Danke», sagt sie fröhlich. «Ich freue mich, dass du kommen konntest. Du natürlich auch, Clara. Schön, dich endlich mal kennenzulernen.»
«Ja», sage ich. «Es tut gut, gekannt zu werden.»
Tucker ist so ganz anders als Christian, denke ich, als wir von der Party nach Hause fahren. Er ist beliebt, aber nicht, weil er reich ist (was man von ihm definitiv nicht sagen kann, trotz seiner vielen Jobs – er hat nicht mal ein Handy) oder weil er gut aussieht (was definitiv der Fall ist, wenn er auf eine ländlich raue Art attraktiv und sexy ist, während man Christians Attraktivität eher grüblerisch-sexy nennen kann). Christian ist beliebt, weil er, wie Wendy immer sagt, wie ein Gott ist: schön und vollkommen und ein bisschen entrückt. Geschaffen, um angebetet zu werden. Tucker ist beliebt, weil sich die Leute in seiner Gegenwart wohl fühlen.
«Woran denkst du?», fragt er, weil ich eine ganze Weile schon nichts mehr gesagt habe.
«Du bist anders, als ich gedacht habe.»
Er behält weiterhin die Straße im Auge, aber das Grübchen zeigt sich auf seinem schmalen Gesicht. «Wofür hast du mich denn gehalten?»
«Für einen rüpelhaften Hinterwäldler.»
«Herrje, du nimmst nicht gerade ein Blatt vor den Mund, was?», sagt er und lacht.
«Das hast du doch ganz genau gewusst. Du wolltest, dass ich das denke.»
Er antwortet nicht. Ich frage mich, ob ich vielleicht zu offen gewesen bin. Bei ihm kann ich meine Zunge einfach nicht im Zaum halten.
«Du bist auch anders, als ich gedacht habe», gesteht er.
«Dann hast du mich wohl für ein verwöhntes Prinzesschen aus Kalifornien gehalten.»
«Ich denke immer noch, dass du ein verwöhntes Prinzesschen aus Kalifornien bist.» Ich boxe ihn heftig gegen die Schulter. «Au. Siehst du?»
«Wieso bin ich anders, als du gedacht hast?», frage ich und gebe mir Mühe zu verbergen, wie nervös ich bin. Es ist schon erstaunlich, wie wichtig es mir auf einmal ist, was er von mir hält. Ich schaue aus dem Fenster und lasse den Arm raushängen, während wir unter den Bäumen her auf unser Haus zufahren. Die nächtliche Sommerluft ist warm und fühlt sich seidig auf meiner Haut an. Der Vollmond über uns gießt ein verträumtes silbernes Licht über dem Wald aus. Grillen zirpen. Ein kühler, nach Kiefernnadeln duftender leichter Wind regt sich im Laub. Eine vollkommene Nacht.
«Na los, sag schon, wieso bin ich anders?», frage ich Tucker noch einmal.
«Schwer zu sagen.» Er reibt sich den Nacken. «Bei dir liegt so ungeheuer viel unter der Oberfläche.»
«Hmm. Wie geheimnisvoll», erwidere ich und gebe mir große Mühe, es ganz leicht dahinzusagen.
«Ja, du bist wie ein Eisberg.»
«Oje, danke. Ich glaube, das Problem ist, dass du mich immer unterschätzt.»
Wir fahren vor unserem Haus vor, das dunkel und leer wirkt,
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